Metis heißt Bastard

Labyrinth Der Gastlandauftritt der Türkei auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober ist ein kleiner Sieg der türkischen Zivilgesellschaft

Fünf nach neun. Wer in Istanbul eine der zahllosen Fähren besteigt, um zum islamischen Friedhof im Stadtteil Eyüp westwärts am Goldenen Horn zu gondeln, wo einst der französische Schriftsteller Pierre Loti zwischen Katzen und Konkubinen die Schönheit Konstantinopels besang, kommt unweigerlich an der türkischen Marine-Akademie vorbei. Man wundert sich. Warum stehen die Zeiger auf der Turmuhr des trutzigen, rund um die Uhr bewachten Gebäudes genau auf fünf nach neun? Bis man erfährt, dass sie die Todeszeit Atatürks anzeigen, des legendären "Vaters aller Türken", der am 10. November 1938 kurz nach neun Uhr morgens im Dolmabahce-Palast starb. Das Bild erklärt den Grundkonflikt am Bosporus besser als tausend Dissertationen. Wenn die Generäle könnten, würden sie die gute alte Zeit am liebsten für immer festhalten.

Vergangene Woche schien es so, als hätten die kemalistischen Gralshüter Erfolg bei ihrem Versuch, die sukzessive Auflockerung der Einheitskultur namens Türkei zu stoppen. Erst hob die mit der Generalität eng verbündete Justiz in Gestalt des Verfassungsgerichts in Ankara die vorsichtige Lockerung des Kopftuchverbots auf, die die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament durchgesetzt hatte. Das Gericht beschwor damit eine schwere Verfassungskrise. Selbst liberale und unabhängige Juristen wie Ergun Özbudun, den Erdogan nach seinem großen Wahlsieg vom vergangenen Jahr mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt hatte, beschuldigte die Richter, ihre Macht zu missbrauchen.

Noch aufschlussreicher war eine andere Entscheidung. Ausgerechnet das Amtsgericht des liberalen Stadtteils Beyoglu hatte die türkische Schwulen- und Lesbenorganisation Lambda verboten. Offiziell ist Homosexualität in der Türkei seit Gründung der Republik 1923 nicht verboten. Trotzdem sind Homosexuelle immer wieder Schmähungen und Schikanen ausgesetzt. Dass die Richter in den Broschüren der Organisation Pornographie witterten, die "Familie und Moral" in Frage stellten, konnte man fast noch erwarten. Doch mehr als diese Begründung ließ die Tatsache aufhorchen, dass der Name Lambda "kein türkischer Name" sei, wie es in der Urteilsbegründung des Amtsgerichts hieß.

Schwer vorstellbar, dass es gelingt, die Reinheit der "ungeteilten türkischen Nation" zu erhalten, wie es die offizielle kemalistische Formel propagiert. So multikulturell wie die Türkei in den letzten zehn Jahren geworden ist, dürfte die Erziehungsdiktatur der fünfziger Jahre heute nicht mehr greifen, selbst wenn sie wieder einmal auf den Spitzen der Bajonette daher käme. Die Kurden, die das Militär von Anbeginn mit eiserner Faust unterdrückte, sitzen längst mit einer eigenen Partei im Parlament. Die Regierung hat es im Mai mit einem neuen Gesetz dem staatlichen Fernsehsender TRT erlaubt, in einem eigenen Programm 24 Stunden auf kurdisch zu senden. Auch dieses Gesetz dürfte den Militärs, die die Kurden regelmäßig bis in den Irak verfolgen, ein Dorn im Auge sein.

Dass sich die Türken längst nicht mehr vorschreiben lassen, aus welchen Quellen sie sich ihre türkische Nation zusammensetzt, die Atatürk einst erfunden hatte, kann man seit Jahren im kulturellen Alltag beobachten. Wer heute in Istanbuler Musikläden einkauft, findet die Regale nicht nur voller Arabesk-Musik, also jener Sprache, die der türkische Übervater in den zwanziger Jahren auszutilgen gedachte. Eine der beliebtesten CD-Serien ist eine Reihe mit Musik aus der osmanischen Zeit: "Osman Empire- Empire of Tolerance" lautet der bezeichnende Titel der Serie. Jahrzehntelang galt das osmanische Reich als verachtenswertes Kapitel der türkischen Geschichte. Jetzt suchen viele genau dort nach den Spuren ihrer kulturellen Identität.

Jüngstes Beispiel für einen schleichenden Bewusstseinswandel in der Türkei sind die Vorbereitungen für den "Gastlandauftritt" der Türkei auf der Frankfurter Buchmesse. Das klingt auf den ersten Blick unwahrscheinlich. Denn normalerweise sind diese alljährlich wiederkehrenden Veranstaltungen eine Gratwanderung zwischen Marketing und Repräsentationsritual, deren Effekte unsicher sind und von denen niemand weiß, ob sie ein breites Publikum wirklich so interessieren wie die zahlreichen Organisatoren und Offiziellen. Gleichzeitig stellen diese Präsentationen immer so etwas wie eine Definitionsarbeit in Sachen nationale Identität dar.

Und just bei dieser Arbeit fallen dem aufmerksamen Beobachter markante Abweichungen auf: Wo sonst die ruhmreiche türkische Nation immer unter der roten Fahne mit dem weißen Halbmond wehte, prangt jetzt auf allen offiziellen Dokumenten ein Labyrinth in den Farben genau jener Organisation, die die Amtsrichter von Beyoglu verboten: Dem Regenbogen. Kein Labyrinth überdies, das - einmal betreten - keinen Ausweg mehr bietet, in dessen geschlossener Form man sich verirrt oder gefangen bleibt. Sondern eines mit vielen Wegen nach außen und nach innen; eines in dem man interessante Ecken findet.

Auch das Motto: "Türkei - faszinierend farbig" bricht auffällig mit der Monochromie, die das Reinheitsgebot der türkischen Kultur bislang vorsah. Und hinter der Tatsache, dass das Kulturministerium in Ankara sein neu aufgelegtes Übersetzerprogramm TEDA, mit dessen Hilfe es türkische Literatur im Ausland bekannt machen will, die "universelle Reise der türkischen Literatur" genannt hat, darf man durchaus als leises Abrücken von dem türkischen Nationalismus interpretieren, den man nicht nur bei Fußballspielen fürchten gelernt hat. Man wundert sich, das die auffällig "untürkischen" Symbole noch keine Angriffe aus Militär, Justiz und Bürokratie oder von den türkischen Ultranationalisten auf sich gezogen haben, die solche Vorgänge mit Argusaugen zu beobachten pflegen..

Nun wird Premier Erdogans islamische Regierung in Europa trotz einiger Reformerfolge weiterhin mit großem Misstrauen beobachtet. Klar, dass sie ein großes Interesse hat, sich auf dem größten Buchmarkt der Welt als moderne, pluralistische Kulturnation darzustellen. Trotzdem sind das Logo und das Motto des Buchmessenauftritts wohl nicht nur die wohlfeile PR-Fassade vor einem System, das bis heute seine Schriftsteller und Publizisten vor den Kadi zerrt, wenn sie es wagen, das "Türkentum" zu beleidigen. Die - nicht nur von der EU geforderte - Reform des berüchtigten Paragraph 301 des türkischen Strafgesetzbuches, die der Premier jüngst ins Parlament eingebracht hat, ist der Rede nicht wert. Das macht das gebetsmühlenhaft wiederholte Bekenntnis zur "Vielfalt", das Ahmet Ari, der Vorsitzende des türkischen Organisationskomitees, deutschen Kulturjournalisten vergangenes Wochenende auf einer Konferenz in Istanbul als Grundmotto des türkischen Schwerpunkts wieder einmal nachhaltig einzuhämmern suchte, nicht wertlos. Die Namen der Autoren, die mit neuen Büchern zur Frankfurter Messe kommen, lassen ein vielfältigeres Bild der Türkei aufscheinen, als man es bislang kannte.

In Deutschland reicht das Wissen über türkische Literatur vielleicht gerade noch bis zu Yasar Kemal und Orhan Pamuk. Doch wer kennt schon den 1957 geborenen Mario Levi, den jüdischstämmigen türkischen Schriftsteller, dessen Roman Istanbul war ein Märchen in der Türkei Kultstatus genießt? Oder Murathan Mungan? Der 1955 in Istanbul geborene Autor ist in seiner Heimat ein Popstar. Der Meister des literarischen Crossover balanciert zwischen Pop, Drama und Lyrik, verarbeitet darin den Stoff aus arabisch-kurdisch-alevitischen Legenden. So avanciert ästhetisch, wie Mungan schreibt, so couragiert äußert er sich politisch. Als 2007 der armenische Journalist Hrant Dink von Nationalisten ermordet wurde, geißelte er mit einem Aufsehen erregenden Artikel den türkischen Nationalismus (Freitag 05/07). Auch ein bekennender Homosexueller wie Mungan ist in der tendenziell machistischen Türkei keine Selbstverständlichkeit. Und wer kennt die 1976 geborene Asli Erdogan aus Istanbul? Die Naturwissenschaftlerin, die zur Literatur gewechselt ist, repräsentiert eine ganz neue Generation türkischer Autorinnen jenseits jedes nationalistischen Identitätszwangs. Mit 350 eingeladenen Autorinnen und Autoren, dürfte in Frankfurt ein facettenreicheres Bild der türkischen "Nation" entstehen als beim Ägäisurlaub. Rot war gestern - die neue Türkei wird bunt.

Zu verdanken hat die Buchwelt diesen vielversprechenden Auftritt des "Gastlandes" Türkei einer Frau, die alle im Literaturbetrieb der Türkei respektvoll eine "Kämpferin" nennen. Müge Gürsoy Sökmen, die links-feministische Verlegerin aus Istanbul, Vizevorsitzende des Organisationskomitees, hat in zähen Verhandlungen mit Kulturminister Ertugrul Günay, einem von der sozialdemokratischen CHP zu Erdogans AKP konvertierten Politiker erreicht, dass diese Kommission mehrheitlich mit Vertretern aus der Zivilgesellschaft besetzt ist: Autoren und Verleger. Nur ein Vertreter von Günays Geld gebendem Ministeriums sitzt im Organisationskomitee. Planung und Programm bestimmen die Vertreter der Verbände. Eine kleine Revolution in einem Land, in dem die Staatsbürokratie ihre Bürger bis hin zur Kleiderordnung zu gängeln versucht.

"Sie haben endlich verstanden, dass es ohne uns nicht geht " erklärt die fröhliche Sökmen den deutschen Journalisten stolz beim Mittagessen im Topkap¦-Palast. Selbst wenn Staatspräsident Abdullah Gül das kulturelle Kapital des Prestigeerfolgs "Gastland-Auftritt" für den Staat vereinnahmen kann, wenn er die Messe Mitte Oktober in Frankfurt eröffnet. Die Türkei in Frankfurt - das ist ein Sieg für die Zivilgesellschaft des Landes, das Atatürk einst als "Kulturnation" definierte. Die Vorbildwirkung dieses selbstorganisierten Projektes dürfte auch andere beflügeln.

Nomen ist im Fall der couragierten Verlegerin durchaus Omen. Sökmen leitet einen wichtigen Verlag, der in einer Seitenstraße der Istiklal Caddesi, Istanbuls Flanier- und Shoppingmeile, seinen Sitz hat. Den Namen dafür hat sie sich aus der antiken Mythologie entlehnt. Metis ist der Name der ersten Geliebten des Zeus. Mit ihr zeugte der Göttervater Athene, schließlich fraß er sie auf, damit sie keinen Sohn gebären konnte, der ihm gefährlich werden konnte. Die kluge Göttin, die Herodot die "Bewahrerin aller gerechten Dinge" nannte, fungiert in der Mythologie als die Störenfriedin der Macht. Sie hindert sie daran, total zu werden. Im türkischen heißt Metis aber auch soviel wie Bastard. Den einfarbigen Generälen in der türkischen Marine-Akademie muss es angesichts der gemischten Zeiten, die da für ihr Land heraufdämmern, wahrscheinlich langsam so vorkommen, als sei es fünf vor zwölf.

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