Was um Himmels willen wollte ich eigentlich in Paris?« Ruths Freundin ist in die Stadt an der Seine geflohen. Die Ich-Erzählerin der ersten Geschichte in Judith Hermanns zweitem Buch Nichts als Gespenster hat keinen Namen. Auch ihre Freundin Ruth spricht sie nie mit ihrem Namen an. Und Raul, der abgebrühte Schauspieler und Proll-Typ mit der unerklärlichen Ausstrahlung, später ihr Liebhaber für eine Nacht, mit dem sie ihre beste Freundin betrügen wird, sagt auch nicht ihren Namen. Soll man sich da wundern, dass dieser Prototypus einer melancholischen Geliebten einfach kein eigenes Profil gewinnen will?
Denkt man nach ein, zwei Wochen an die Lektüre des neuen Werks der 1970 in Berlin geborenen Autorin zurück, passiert etwas Merkwürdiges. Die Kontur dieser sieben Geschichten samt ihrer Personnage verblassen zu einer einzigen Kulisse mit einem gespenstisch gleichförmigen Reigen unseliger Geister. Ob Irene, Jonas, Magnus, Micha, Sarah oder Peter. Alle sind sie sich so ähnlich. Miroslav könnte auch Raul sein und Raul auch Miroslav. Denn beide können auch nicht richtig über alles reden. Männer sind überhaupt ein gespenstisches Geschlecht in Hermanns Geschichten: defensiv, abwartend, unentschieden. Deswegen müssen sich ihre Freundinnen dann natürlich in andere Männer verlieben.
Judith Hermann bevölkert ihr Buch mit Gespenstern ohne Kontur. Kein Wunder, dass das Mädchen, das mit Freunden über Silvester nach Prag fährt, Peter im Menschengefühl an der Moldau nicht wieder fand, »so wenig unterschied er sich«. Ihre Protagonisten sind jung, so um die 30, ein bisschen älter als in ihrem übermäßig bestaunten Erstling Sommerhaus, später, aber so alt wie die desillusionierten Liebespaare bei Erich Kästner, die ins einzige Café am Ort gingen und es einfach nicht fassen konnten. Nach dem Adjektiv »traurig« ist der Satz: »Es gab nichts zu sagen« das zweithäufigste Stilelement. So schweigen die toten jungen Seelen einer explosiven Epoche.
Den Mangel an Kommunikation kompensieren sie mit einem Übermaß an Bewegung. »Ich reiste in dieser Zeit oft in fremde Städte, blieb eine orientierungslose, zähe Woche lang und fuhr wieder ab«, weiß die namenlose Ich-Erzählerin aus der ersten Geschichte von ihrer Obsession zu berichten. Doch egal ob sie oder ihre Wiedergängerinnen plötzlich unmotiviert nach Island, Prag oder Venedig reisen. Vor allem irren sie ziellos durch die Welt. Und wenn sie schon einmal den letzten Rest an Entschiedenheit zusammen nehmen, um sich davon zu machen, geraten sie garantiert in eine undurchschaubare Zwischenwelt. Der Horizont auf der nebelverhangenen Autobahn reicht dann nur noch bis zur Kühlerhaube: ein klarer Fall von Utopieverlust.
An überragender Erzähltechnik kann es nicht liegen, dass Judith Hermann nun so gefeiert wird. Sie erzählt sicher, aber konventionell, an der emotionslosen Lakonie der amerikanischen Kurzgeschichten-Schule geschult. Eher schon hängt ihr erstaunlicher Erfolg an einer kollektiven Projektion. Nirgendwo sonst verschafft sich das halbherzige Einrichten in dem vagen Ungefähr, in der Perspektivlosigkeit und den diffusen Gefühlen einer ungewissen Umbruchzeit so präzise Ausdruck wie bei dieser Autorin. Und das Unvermögen, es zu artikulieren. In der titelgebenden Geschichte Nichts als Gespenster warnt die Berlinerin Ellen ihren Gastgeber Buddy in einer Kneipe in der Wüste Nevadas vor ihrem schweigsamen Freund, einem Fahrradmechaniker, »dass es verheerend sein konnte, mit Felix über Utopien zu sprechen, über bloße Möglichkeiten«.
Wenn diese fraglos unglücklichen Gespenster aufstehen oder aus dem Auto steigen, müssen sie sich immer erst mal abstützen, weil ihnen sonst schwindelt. Ständig kommen sie ins Taumeln. Wenn sie in Venedig beim Besuch der Eltern aus der Gondel steigen oder wenn sie mit einem Freund am See entlanggehen. So gefangen sind sie im hier und jetzt. Traurige kleine Ich-AG´s, weit hinaus gekommen in die Welt, wenn man sie mit ihren Berliner Vorgängerinnn aus Sommerhaus, später vergleicht, bis zu den endlosen Weiten des Nordpol quasi, aber trotzdem mit begrenzter Aussicht. Das Mädchen, das einem Maler in eine Wohnung voller verstaubten Nippes im tschechischen Karlovy Vary nachreist, weil der eventuell womöglich doch noch wieder vielleicht so etwas wie ein Geliebter werden könnte, hört zwar im Schlafzimmer mongolische Musik aus dem Weltempfänger. Doch der Schlüsselsatz für diese Einheitspsyche lautet: »Draußen ist ohne Bedeutung.«
Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage, muss Literatur welthaltig sein? Muss sie nicht. Genauso wenig wie sie lustig sein muss oder traurig oder poppig oder sonst was muss, muss, muss. Wenn die junge Möchtegern-Sängerin mit ihrem Freund Owen zum Nordlicht-Festival nach Tromso reist, auf einer Fete wildfremden Leuten erklärt, dass sie nicht wisse, wie sie die letzten Jahre verbracht habe, mag das den Verfechtern der Welthaltigkeit ein Dorn im Auge sein. Doch die Abwesenheit von Gesellschaft in diesen unendlich ineinander versponnenen Netzwerken verstümmelter Beziehungen ist ein eminent aussagekräftiges Bild über Gesellschaft.
Trotzdem wäre es zu viel der Ehre, wenn man Judith Hermann, deren dekorative Melancholie wuchert wie die Arabeske in der islamischen Kunst, als Meisterin des Prinzips »die Form ist der Stoff« preisen würde. Dafür ist diese Dornröschenhecke aus den Knospen der »kindlichsten aller Traurigkeiten« zu wenig durchgearbeitet oder nicht flach genug - je nachdem wie man die Serialität gern hätte. Sicher - Hermann konstruiert die länger gewordenen Bögen ihrer neuen Erzählungen stabil und trotzdem leichtfüßig. Doch ihr Schnittmuster: die blassen Figuren, die sich quer durch alle Geschichten selbst fortstrickenden (Selbst-)Dialoge nach dem Motto: »ich sagte ich will nicht, und er sagte warum denn nicht?, und ich sagte Ich weiß nicht, das stimmte, ich wusste wirklich nicht warum, ich wußte nur, daß ich nicht wollte, und da sagte er ...« ergeben mit dem reichlich gestreuten Gefühl indifferenter Ambivalenz eher eine hübsche Schwundform von A bout de souffle oder Jules et Jim - die Nouvelle Vag der Berliner Republik. Leider gießt sie dann auch noch den Francoise-Sagan-Zuckerguss der schlichtesten aller Melancholien darüber: »Alle Erinnerung scheint mir traurig zu sein« weiß das Mädchen, das seine Eltern widerwillig in Venedig besucht und sich beim Warten vor dem Hotel an Telefonate mit ihrem Vater erinnert. Da klingt Hermanns kostbare Melancholie plötzlich wieder wie Schwermut für Anfänger.
Es gibt einen merkwürdigen Widerspruch in Judith Hermanns Prosa. Alle ihre Protagonisten leben in emotionalen Zwischenlagen, hinter denen man existenzielle Grenzsituationen ahnen soll. Doch an all der wortreich beschworenen Ortlosigkeit und Fremdheit leiden ihre Figuren nicht wirklich, sondern so lustvoll wie Owen und seine Freundin, die sich die Zeit in Tromso auf bizarren Bohèmeparties vertreiben. Da ist es »kalt und schön und wild«. Denn immer bleiben diese altklugen Jungmelancholiker wie in einer unsichtbaren Wolle des Wohlbefindens eingelullt. Es ist die Art existenzieller Grenzsituation, die solche Leute gern im Rotlichtviertel suchen, um einen Kitzel des Anrüchigen und Verruchten zu spüren. Und Hermanns Protagonisten steigen verdächtig oft im Rotlichtviertel ab. Die existenzielle Enthemmung, die man da vermuten könnte, liest sich bei Judith Hermann dann aber etwas backfischig: Sie taten, »was man tut, wenn man verliebt ist.« Zeigt ihnen ein Mann sein echtes Geschlecht, erschrecken sie. Ihre melancholische Prüderie ist das Äquivalent zur ästhetischen der Autorin. Nicht, dass sie es nicht vermöchte, ein vages Gefühl des Unsagbaren, des Verborgenen zu wecken und lange in der Schwebe zu halten. Doch man ahnt, dass der Keller des Geheimnisses unter der Falltür des Weltschmerzes ziemlich flach ist. Man versenkt sich in diese Kippmomente des Lebens, wie man sich an einem zerlesenen Sonntagnachmittag in ein kostbares Vlies kuschelt. Die Gefährdung fühlt sich so flauschig an.
Judith Hermann lässt sich mit einer gleichmütigen Distanz zum Betrieb inszenieren: Hier sitze ich, hier schreibe ich. Ich kann halt nicht anders. Als Autorin kann man sich das erlauben, so lange das eigene Schreiben trägt. Trotz mancher Schwächen: Judith Hermanns Schreiben trägt. Auch wenn Literatur bei ihr wie eine der erlesenen Professionen wirkt, mit denen Aussteiger gern dem wirklichen Leben näher kommen wollen. So existenziell wie eine Goldschmiedearbeit. Oft steht man voll lebensmüder Mattigkeit vor den Schaufenstern solcher stillen kleinen Edelhandwerker, betrachtet die sanft mattierten Ringe und Accessoires, mit denen man dezent einen bedeutungsvollen Punkt setzen kann, ohne groß die Augen aufzuschlagen und ersehnt sie sich als Spiegel seiner köstlich aufgerauten Seele. Nach einer somnambulen Weile reißt man sich los und fragt sich seufzend: »Was um Himmels willen wollte ich eigentlich im Leben?«
Judith Hermann: Nichts als Gespenster. Erzählungen. Fischer, 2002, 320 S., 17,90 EUR
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