Immer wollen sie etwas hinter sich lassen. Die junge ostdeutsche Fotografin Leah verlässt Berlin, weil sie in New York das noch größere künstlerische Abenteuer sucht. Das lesbische Liebespaar Evy und Vera will mit einem Skiurlaub in Tschechien die Beziehungstristesse abschütteln, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hat. Katja und Lutz wollen ein Land verlassen, in dem es sich nicht mehr zu leben lohnt. Und Anja, die einen Job als Betreuerin in einem Abenteuercamp in Schweden annimmt, will raus aus der Enge von Halberstadt.
Das Motiv der Überwindung (der Vergangenheit) teilen die Protagonistinnen aus Antje Ràvic Strubels Romanen Offene Blende (2001) Unter Schnee (2001), Tupolew (2004) und dem gerade erschienenen Roman Kältere Schichten der Luft mit ihrer Erfinderin. Das darf man nicht allzu eng verstehen, biografisch etwa. Denn sehr abarbeiten muss sich die 1974 in Potsdam geborene Antje Ràvic Strubel an ihrer "Heimat" DDR nicht. Als die Mauer fiel, war sie 15 Jahre. Alt genug, um von dem untergegangenen Sozialismus geprägt zu sein, aber noch jung genug, um in dieser Prägung nicht aufzugehen.
Im Hintergrund ihrer Geschichten tauchen zwar immer wieder ein paar Kulissen des "verschwundenen Landes", dem sie selbst entstammt, aber es geht zielstrebig nach vorn in den Büchern dieser intelligenten Autorin. Es muss etwas mit dieser Position zwischen den Zeiten zu tun haben, dass Strubel zwischen den Ästhetiken laboriert. Jedenfalls ist die Potsdamerin damit zu einer der interessantesten deutschen Autorinnen geworden. An Vertreterinnen wie ihr zeigt sich die oft beschworene Innovationskraft der "Zonenkinder". Zufall war es nicht, dass sie mit Kältere Schichten der Luft auf der fünf Namen umfassenden Shortlist für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse landete - neben dem (schließlich ausgezeichneten) Ingo Schulze.
Auch in ihrem jüngsten Werk lässt Strubel nur einmal kurz die Kindheitskulissen aufleuchten. Wenn die 30-jährige Anja die Plattenbauten von Halberstadt: "aufgegrellte Fassaden, sozialistischer Rest, kurz vorm Abriß" gegen den herben Charme der Outdoor-Romantik in Südschweden eintauscht. Und ihr Betreuerkollege Ralf, erfahren wir später beiläufig, war mal Grenzer bei der NVA. Ansonsten fühlt man sich hineingeworfen in eine Kulisse von äußerster Zeitgenossenschaft: Das Lager, in dem verwöhnte Jugendliche aus der Großstadt sich in "Wildniserfahrung mit null Komfort" üben dürfen, wirkt wie eine Mischung aus Giorgio Agambens "Lager" und Big Brother. Wie in einem Brennglas bündeln sich hier alle Probleme der Gegenwart: Perspektivlosigkeit und latente Aggression, Überdruss an der Normalität und Sehnsucht nach der Extremerfahrung.
Strubels Werke wirken wie ein Akt der Selbstüberwindung. Auf der einen Seite kann diese Autorin unglaublich subtil Charaktere und Milieus zeichnen. Wenn die 24-jährige Katja in dem Roman Tupolew eines Tages die Arbeit sinken lässt und sagt: "Ich lebe nicht mehr gern so", meint man die Bedrückung in der DDR-Gesellschaft am eigenen Leibe zu spüren. Doch nie würde sich Strubel einfach so dem süffigen Erzählen hingeben. Man könnte auch sagen: Sie will ihren inneren Realismus überwinden. Die (reale) Geschichte der Republikflucht samt Flugzeugentführung, die aus Katjas Veränderungsdrang erwächst, wird deshalb immer wieder von poetologischen Reflexionen über und Perspektivwechseln auf den historischen Stoff durchkreuzt: "Fallen Sie nicht auf die positiven Figuren herein" rät ein Erzähler einmal in Tupolew. Auch in Fremd gehen. Ein Nachtstück (2002) entpuppt sich der mysteriöse Mord an der Kreuzberger Admiralbrücke, der in dem Roman geschildert wird, als die (parallel erzählte) Erfindung eines literarisch ambitionierten Freundinnenpaares, das an der Brücke wohnt. Geschichten sind immer gemacht ist die Botschaft solcher Konstruktionen. Damit hebt sich Strubel von der unreflektierten Renaissance des Erzählens à la Judith Hermann ab. Postmoderne und Realismus gehen bei der experimentierfreudigen Autorin eine manchmal angestrengte, aber immer produktive Verbindung ein.
Die poetische Funktion, das Realistische zu konterkarieren, erfüllt in Kältere Schichten der Luft eine phantastische Begegnung. Plötzlich taucht am Strand des Sees im schwedischen Värmland eine Frau auf, die Anja mit einem geheimnisvollen Namen belegt: "Schmoll". Erst wehrt die sich: "Ich heiße nicht Schmoll", sagte ich "Und ich bin kein Junge". Doch mehr und mehr gerät sie in den Bann dieser seltsamen Person. Schließlich kommt es zu einer Verwandlung: Als sie bei einem gemeinsamen Ausflug in einem Kaufhaus ein gestreiftes Hemd anprobiert, sieht die 30-jährige "auf einmal tatsächlich wie ein Junge aus. Vierzehnjährig. Mitten in der Pubertät". Plötzlich merkt Anja, dass "in diesem Körper noch ein anderer" war und sie verhält sich auch so. Sie wird Schmoll.
Die nachgerade schwebende Beziehung, die sich zwischen der Jungs-Frau Anja und der Nur-Frau Siri entwickelt, steht in einem etwas schwer vermittelbaren Kontrast zu dem robust geschilderten Lagerleben. Der zögerliche Kontakt, der schließlich in einer erotischen Begegnung gipfelt, ist zwar das Gegenstück zu der allmählichen Verrohung im Camp: Dort steigt der Druck unter den eingeschlossenen Outcasts: Unterschlagung und sexuelle Gewalt sind plötzlich an der Tagesordnung. Am Schluss gibt es sogar einen Toten.
Trotzdem wirkt das Setting einigermaßen gekünstelt. Das Störmoment kommt in diesem Werk in Form der traumartigen Sequenzen zwar sehr viel leserfreundlicher daher als sonst, wo die Collagen deutlicher sichtbar sind. Trotzdem bewirkt die instinktive Abwehr gegen die abstruse Geschichte mit der Frau und den verschrobenen Namen, dass das Unterminieren der Fiktion, auf das Strubel hinaus will, nicht funktioniert. Und bei manchen Passagen beschleicht einen das Gefühl, dass die eigentliche Kraft dieses Buches in den Naturbeschreibungen liegt. Wenn Strubel ihre(n) Erzähler(in) die Farbpaletten des Lichtes im Norden auffächern lässt, vom flirrenden Hitzegelb bis zum Gewitterblau, verfällt man ihrer ebenso entwickelten Kunst: der der nachwirkenden Bilder.
Lesbische Liebe (ein Thema, das alle Romane Strubels grundiert), Transgender, postsozialistisches Prekariat, die Erosion des Zivilisatorischen, ganz zum Schluss noch eine Messerspitze NS-Vergangenheit - es ist zuviel, was Strubel in diesen kaum 200 Seiten umfassenden Roman gepackt hat. Und doch lohnt die Lektüre dieser eigenwilligen Prosa. Dass sie den Entwurzelten ihrer Geschichten, die alle ausziehen ein anderes Leben zu suchen, keine neue Utopie serviert, ist sicher Absicht. Wo bei Strubel das bessere Leben beginnt, kann man schon an der Form ihrer Texte ablesen: beim Ausbruch aus der Konvention.
Antje Rávic Strubel: Kältere Schichten der Luft. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 2007, 192 S., 17,90 EUR
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