Die Ähnlichkeiten sind verblüffend. Das Jugendliche, das Charismatische, das Visionäre. Beide studierten in Harvard, beide schrieben Bücher, die sie berühmt machten, beiden gelang der Durchbruch mit einer Kampagne aus enthusiastischen Freiwilligen. Und dann diese Rhetorik: "Es gibt nicht ein Amerika der Schwarzen und ein Amerika der Weißen, ein Amerika der Latinos und ein Amerika der Asiaten. Es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika". Das sagte der bis dato noch weithin unbekannte schwarze Senator des Bundeslandes Illinois unter dem frenetischen Jubel der Delegierten zum Auftakt jener Veranstaltung, die John Kerry zum Kontrahenten von George W. Bush bestimmte.
Wer Barack Obamas Nominierungs-Rede auf dem demokratischen Nominierungs-Konvent von 2004 im Kopf hat, meint John F. Kennedy sprechen zu hören. Ähnelte der Satz nicht verblüffend der Diktion des jungen Senators von Massachusetts, der 1958 ausrief: "Lasst uns nicht nach der republikanischen oder der demokratischen Antwort suchen. Lasst uns nach der richtigen Antwort suchen"?
Ganz falsch ist das Etikett vom "schwarzen Kennedy" also nicht, das Christoph von Marschall, Washington-Korrespondent des Tagesspiegel dem ebenso überraschenden wie aussichtsreichen demokratischen Präsidentschaftsbewerber des Jahres 2008 in seiner Biographie aufklebt. Aber es stimmt auch wieder nicht. Denn im Gegensatz zu dem Patriziersohn Kennedy, von dem alle Welt erwartete, dass er eines Tages Präsident werden würde, war Obama die politische Karriere keineswegs in die Wiege gelegt. Selbst 1961, dem Triumphjahr Kennedys, in dem Obama in Honululu geboren wurde, konnte niemand davon ausgehen, dass der Sohn eines Kenianers und einer Weißen aus Kansas eines Tages an der Spitze des mächtigsten Staates der Erde landen könnte. Rassenmischung war in vielen Bundesstaaten der USA damals noch ein Straftatbestand.
Es bleibt unerfindlich, warum der Verlag das erste Buch Obamas in der deutschen Übersetzung Ein amerikanischer Traum genannt hat. Der amerikanische Titel des bereits 2004 erschienen Buches: Dreams of my father. A tale of race and inheritance verweist auf andere - nämlich (familien-)psychologische - Bezugslinien. Offenbar glaubt man, amerikanische Lebensgeschichten hierzulande nicht anders an den Käufer bringen zu können als im Modus eines verschlissenen Mythos. In gewisser Weise ist Obamas Buch über sein Leben und seine Familie zwar das Beispiel einer "Erfolgsgeschichte". Aber darin hat es nicht ein Tellerwäscher zum Millionär gebracht oder ein mittelloser Immigrant zum patriotischen Superamerikaner. In dieser Geschichte findet ein Suchender den Weg zu sich selbst.
Obamas Buch ist nämlich zuallererst das Dokument einer skrupulösen Selbstbefragung. So skrupulös, wie man sie von Amerikanern nicht gewohnt ist. Anders als Bill Clinton, der ja bekanntlich "nicht inhaliert" hat, spricht Obama darin offen von den Phasen seiner Drogensucht. Zwischen seinem Schulzeit am Occidental College in Los Angeles und der Arbeit als Sozialarbeiter in Chicago stand er zeitweilig am Rande der Legalität. "Ein Junkie, ein Pothead, auf dem Trip war ich: zur Endstation eines jungen, schwarzen Möchtegern-Aussteigers", resümiert er diese Jahre. Noch vor kurzem wäre jeder Politiker nach einem solchen Geständnis über Nacht von der Bildfläche verschwunden.
In seinem etwas schnell geschriebenen Buch verlässt sich Marschall leider weitgehend auf die Selbstaussagen Obamas. Und motzt das Buch unnötig mit heute längst Makulatur gewordenen Hinweisen auf dessen Rivalen bei den Primaries auf. Eine "Biographie" im strengen Sinne ist dieses Buch also beim besten Willen nicht. Dennoch lässt sich Marschall nicht von dem medialen Heiligenschein blenden, der Obama mittlerweile umgibt. So deckt er kleine Flunkereien Obamas auf, als der sich und seine Eltern im Wahlkampf als Nutznießer und Erben der Bürgerrechtsbewegung darzustellen suchte oder manch taktisches Abstimmungsverhalten im Senat. Das ändert aber nichts an dem Grundcharakterzug Obamas, wie er einem in seinem eigenen Buch häufig begegnet: Eine Mischung aus Aufrichtigkeit und Authentizität als Privatperson, in der man die Gründe für den Erfolg des Politikers Obama zu verstehen beginnt. Gerade in seinen Schwächen bietet sich dieser Mann zur Identifikation an.
Einer der Gründe für Baracks zeitweilige Orientierungslosigkeit ist die Abwesenheit des Vaters. Ein einziges Mal hat er ihn mit Bewusstsein erlebt. Jahre, nachdem seine Mutter sich von dem angehenden Juristen getrennt hatte, besucht der längst nach Afrika Zurückgekehrte seine ehemalige Familie in den USA. Der Sohn fühlt sich befangen, findet kein Verhältnis zu dem mythischen, letztlich aber doch fremden Mann. Er hält ihn für die "anwesende Masse". Erst als sein Vater ihm zeigt, wie man tanzen muss, bricht der Bann und der junge Barack spürt etwas von der Kraftübertragung zwischen Vater und Sohn. Das Motiv, noch einmal das Gespräch mit ihm suchen zu müssen, das unerledigte Verhältnis zu klären, wird zur treibenden Kraft, die Wurzeln seiner Herkunft in Kenia zu suchen. Erst dann geht jenes "Selbstvertrauen" auch auf ihn über, dass alle die ihn gekannt haben, immer wieder als wichtigsten Charakterzug von Obamas Vater nennen.
Sein Sohn wird gern als Bote und Symbol einer postrassistischen Gesellschaft dargestellt. Abzusehen war das nicht bei einem Mann, der immer unter dem Gefühl litt, als "Außenseiter" wahrgenommen zu werden. Selbst bei den geliebten (weißen) Großeltern Toots und Gramps auf Hawai spürt er rassistische Vorbehalte aggressiven schwarzen Jugendlichen - seinen "Brüdern"- gegenüber, so dass er eines Tages selbst bei ihnen das Gefühl hat, "ganz allein" zu sein.
Es gehört zu den spannendsten Passagen dieses Buches, wie sich dieser Mann durch die widerstreitenden Einflüsse seiner Lebensumwelt zu jener ersehnten "Rassenidentität" durchringt, die dann doch keine ist, jedenfalls keine rein schwarze. Als junger Student fühlt sich Barack, der auszog, "ein Schwarzer in Amerika" zu werden, angezogen von der Kompromisslosigkeit des Schwarzenführers Malcolm X und liest Frantz Fanon. Doch als er seinen Freund Marcus beobachtet, der anfängt, sich Rastalocken wachsen zu lassen und in afrikanischen Hemden auftaucht, fürchtet er das Black-Power-Ghetto. Als Sozialarbeiter in Chicago unter Schwarzen spürt er, dass "Rassenhass tröstet" - über die eigenen Fehler hinweg nämlich. Eines seiner prägenden Erlebnisse hat er, als ihm seine schöne Kommilitonin Joyce eines Tages eröffnet: "Ich bin keine Schwarze ... Es sind die Schwarzen, die immer die Rassefrage stellen, Sie zwingen mich, eine bestimmte Haltung einzunehmen." Zugleich spürt er immer den Einfluss der individuellen Moral, die ihm seine Mutter eingebläut hat; "zwischen einzelnen Menschen guten Willens und jenen, die mir Böses wollten" zu differenzieren.
Solidarität und Universalismus - es muss eine Mischung aus beiden Einflüssen gewesen sein, die Obama schließlich dazu bringen, seinen lukrativen Job in einer Anwaltskanzlei in Manhattan zu kündigen und als Sozialarbeiter nach Chicago zu gehen. In den unterschiedlich erfolgreichen Versuchen, erst eine Jobbörse für Schwarze an der South Side zu gründen und Mieter im heruntergekommenen Stadtteil Altgeld zu organisieren, kann man den Schwenk des zu seinen Studienzeiten als arroganter Intellektueller Verschrieenen zu einem zähen Reformismus ablesen, seine wachsende Ehrfurcht vor den "Geschichten der einfachen Leute". Diese Jahre zeigen im übrigen deutlich, wo sich Obama von JFK unterscheidet. Wo der Ritter von Camelot "Leadership" versprach, setzt Obama auf Selbstorganisation. Wenn Obama ein Kennedy ist, dann ist er einer von unten.
Skeptikern sei gesagt: Obamas Buch ist kein raffinierte Selbstinszenierung für Wahlkampfzwecke. Eigentlich sollte der damals 29-jährige, erste schwarze Präsident der The Harvard Law Review, auf den eine Literaturagentin zufällig aufmerksam wurde, ein Buch über Rassenfragen schreiben. Unter der Hand gelingt ihm dabei das Kunststück einer identitätsbildenden Meistererzählung, die ihre politische Symbolwirkung in einem Wahlkampf nicht verfehlen wird, für den sie nicht geschrieben war. Seht her! Dies ist die Geschichte von einem, der sein Selbstvertrauen wiedergefunden hat. Und: Wer sich seiner selbst bewusst wird, der wird auch fähig, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Was könnte überzeugender wirken in einer Zeit, in der eine wachsende Zahl von Amerikanern das nationale Selbstwertgefühl am Boden liegen sieht?
Der Grund für diese Wirkung ist das poetisch inspirierte Erzählverfahren. Obamas entwickelt ein beachtliches Gefühl für Dramaturgie und emotionale Effekte, zieht alle Register fiktionaler Techniken, wenn er darauf hinweist, dass bestimmte Charaktere "aus mehreren mir bekannten Personen zusammengesetzt" sind. Seine Landschaftsbeschreibungen und Personenstudien sind von literarischer Qualität. Immer meint man dem Ich-Erzähler körperlich nah zu sein, wenn er im Haus seines Stiefvaters in Djakarta unter dem Mangobaum sitzt, auf einer Feuerleiter in East Harlem in Manhattan mit arbeitslosen Hispanics eine Zigarette raucht, oder wenn er sich in der endlosen Savanne des kenianischen Great Rift Valley auf die Spur seiner afrikanischen Ahnen begibt.
Hart an der Grenze zum Melodram gerät ihm diese biografische Reise, als er an ihrem Ende am Grab seines Vaters in Kenia auf die Knie sinkt, die Hand über die gelben Kacheln der Grabstätte streifen lässt und das Gefühl hat, dass "sich ein Kreis schließt". An diesem Präsidenten in spe droht ein veritabler Regisseur verloren zu gehen. Er hat wohl auf die Mahnung John F. Kennedys gehört: "Wenn mehr Politiker die Poesie kennen würden und mehr Poeten die Politik", sagte der verhinderte Literaturwissenschaftler einmal vor Studenten in Harvard, "wäre ich überzeugt, dass die Welt ein besserer Platz zum Leben wäre."
Barack Obama Ein amerikanischer Traum. Die Geschichte meiner Familie. Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork. Hanser, München 2008, 448 S., 24,90 EUR
Christoph von Marschall Barack Obama. Der schwarze Kennedy. Orell Füssli, Zürich 2008, 222 S., 24 EUR
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