Rote Frau vor Magnetberg

Russlandkoller Marion Poschmanns anspruchsvoller "Schwarzweißroman" ist ein neuer Aufbruch ins Gegenstandslose

Vom Osten träumt man, aber dorthin fährt man nicht". Vielleicht hätte sich die Protagonistin von Marion Poschmanns Schwarzweißroman besser an diesen Titel eines frühen Gedichts ihrer Erfinderin gehalten. Dann wäre es vielleicht bei schönen Träumen geblieben. So fällt die namenlose Frau, die in der biographischen Lücke zwischen Studium und Beruf ihren Vater in Russland besucht, in einen Traum der besonderen Art.

Alpträume sind bekanntlich die Vorbedingung jeder guten Literatur. Und gerade deswegen liest man die Texte der 1969 geborenen Berliner Autorin Marion Poschmann. Oder, sagen wir, wegen des schleichenden Übergangs dorthin. Schon in ihrem ersten Roman Baden bei Gewitter (2002), der skurrilen Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem arbeitslosen Sonderling in Berlin kippt die Stimmung unvermittelt von einer fast sozialdokumentarisch gezeichneten Tristesse ins Bodenlose des Wahns: alles in dem Alltag dieser beiden Menschen ist instabil und provisorisch, überall lauern Hohlräume und das Vakuum.

Die "Brüchigkeit von Realität", die Poschmann, wie sie selbst sagt, am Märchen so fasziniert, erprobt sie in Schwarzweißroman neuerlich am Roman. Auf den ersten Blick ist ihr neues Werk ein sehr realistisches Buch. Penibel fängt sie die triste Stimmung in einer grauen Industriestadt am Ural ein, in dem nicht viel mehr als die grauen Würfel der Plattenbauten und ein gigantisches Metallwerk zu existieren scheinen. Es handelt sich freilich nicht um irgendeine Stadt. Sondern um Magnitogorsk, die legendäre Pionierstadt der russischen Variante der Zivilisationskrankheit namens Industrialismus. Das einst größte Stahlwerk der Welt ließ Stalin in seinem ersten Fünfjahresplan gleichsam über Nacht aus dem Boden stampfen. Dort helfen ein paar deutsche Ingenieure fast 80 Jahre später beim Wiederaufbau des Kombinats. Zu ihnen gehört auch Anton Wermut, der Vater der jungen Frau.

Russland assoziierte man in den letzten Jahren (auch literarisch) mit den schrillen Auswüchsen der postsozialistischen Transformation. Im metropolenfernen Hinterland, auf das die Erzählerin trifft, gleicht die russische Nachwendeperiode aber immer noch der längst verflossenen Sowjetzeit: Mütterchen stehen nach Apfelsinen Schlange, schwer parfümierte Prostituierte warten vor der Wohnungstür, in manchem Wohnzimmer prunken noch Lenin-Büsten. Doch dass in dieser Geschichte nicht alles so real ist, wie es scheint, spürt man schon, wenn die junge Frau sich in dem Flugzeug nach Magnitogorsk wie auf einem "Pseudoboden" fühlt. Seufzend klagen die anderen Deutschen, von dem "Rußlandkoller", den über kurz oder lang jeden ereilt, der in dieser Tristesse landet.

Auch in der isolierten Kolonie der deutschen Elektroexperten in der Industriestadt hat die Realität einen doppelten Boden. Einer von ihnen - Theo Cziczinski, Sohn schlesischer Einwanderer aus dem Ruhrgebiet - lebt in einer Plattenbau-Siedlung mit einer russischen Zweitfrau, die er verstecken muss, als seine deutsche Frau Erika unerwartet zu Besuch kommt. Während die junge Frau ihren Vater bei der Arbeit beobachtet, tauchen die Gespenster der Vergangenheit auf. Plötzlich sieht sie sich wieder als kleines Mädchen im Wohnzimmer ihrer Kindheit sitzen. Die Eltern starren auf den Fernseher, über den Kriegsbilder flimmern. Aus unerklärlichen Gründen stockt plötzlich die Arbeit in dem Werk. Die Deutschen sitzen in einem Gefühl lähmender Erwartung untätig herum. Doch nichts geschieht. Der plötzliche Wechsel von der schneidenden Kälte in die überhitzen Räumen versetzt diese Welt genauso an den Rand des Irrealen wie die düstere Kulisse der Stadt auf der Grenze zwischen Europa und Asien.

Mehr noch als das Erbe einer Familie drückt in Poschmanns Geschichte das des Jahrhunderts. Ihr Roman ist Abrechnung mit und Wiederbelebung der Avantgarde in einem. Poschmann erinnert an den Metallarbeiter aus Magnitogorsk, der Modell für die überlebensgroße Soldatengestalt des Sowjetischen Ehrenmals in Berlins Treptower Park Modell stand - Symbol des Neuen Menschen. Das Gegenbild gibt die Ich-Erzählerin. Wieder und wieder irrt sie, sich selbst gelegentlich aus der Vogelperspektive betrachtend, als winziger Punkt im roten Mantel durch die Stadt und die sterilen, übereinander gestapelten Wohnblöcke, streift über die gigantischen Plätze. Hier ist noch immer alle Farbe getilgt - getreu dem Motto El Lissitzyks, der sie als Ausdruck des "hartnäckigen Individualismus" tadelte und dem Schwarz und Weiß des "Stahl-Beton-Kohle-Alltags" gegenüber stellte. Ein entsprechendes Zitat hat Poschmann dem Roman vorangestellt. Je länger sie bleibt, desto mehr erliegt die Frau der Schwerkraft des Kollektiven, des Gigantischen, dem "drückenden Idealismus", der noch immer über der Stadt lastet.

Poschmanns Roman ist keine leichte Lektüre. Einerseits kann sie extrem anschaulich schreiben. Bei Theos feuchtfröhlicher Geburtstagsfeier meint man in die verschwitzten Dekolletes der Frauen schauen zu können. Andererseits atmet das Buch den Ernst eines strengen Kunstwollens. Bisweilen liest sich das angestrengt: "Das Fenster rahmte den Stumpfsinn des Schnees" heißt es einmal. Der geheime Clou ist aber, wie konsequent sie eine suprematistische Farbmetaphorik entfaltet. Das Grau im Osten steht gegen das Weiß der westdeutschen Nachkriegszeit. Mal setzt sie einen leuchtend roten Granatapfel in diese Monochromie, bei dessen Öffnung sich der jungen Frau plötzlich "märchenhafte Räume" öffnen. Mal wehrt sich diese gegen die Kraft einer anderen Grundfarbe: "brennendes Schwarz, das sich ausdehnte".

In einem ihrer nächtlichen Alpträume versinkt sie plötzlich in einem Container, dessen Fußboden aus Fliesen "in eine schwarze und eine weiße Hälfte geteilt war". Wahlweise kann man das als Metapher auf jene ästhetische Sackgasse lesen, in die die experimentierfreudige russische Avantgarde nach der Oktoberrevolution gedrängt wurde. Oder als Bild für den Ost-West-Konflikt. Doch wenn Poschmann den obsessiven Industrialismus Stalins mit der Kriegswirtschaft der Krupps in Essen, der Heimatstadt der Autorin, vergleicht, wenn sie den ausgeweideten Krater des Magnitkas, des Magnetbergs beschreibt, wird klar, dass sie mehr will als den gescheiterten Realsozialismus noch einmal zu Grabe tragen. Es geht um das schwarze Loch, das der Krieg der Ingenieure hier wie da gegen die Natur hinterlassen hat. Es geht um den hilflosen Versuch von ein paar Deutschen, das Kriegsverbrechen abzuarbeiten: "Wiedergutmacher" nennt die junge Frau ihre Landsleute mitleidig.

Die historischen Exkurse und Reflexionen, in die Poschmann das verpackt, wirken zwar oft wie Fremdkörper in dieser hochstilisierten Prosa. Doch so wie die junge Frau den "überpersönlichen Kräften" der Stadt erliegt, erliegt der Leser einer höchst individuellen Schwerkraft: Poschmanns elektrisierender Sprache, ihrem entwickelten Bildgefühl - Qualitäten, auf die es ankommt, wenn die Literatur in der neuen Bildkultur konkurrenzfähig bleiben will.

"Formalistisch", um eine Reizvokabel aus der Avantgardekritik aufzunehmen, ist Poschmanns Versuch einer chromatisch inspirierten Literatur keineswegs. Wenn Vater und Tochter sich zum Schluss des Romans auf die Suche nach der geheimnisvollen Atomstadt machen, die niemand betreten darf, die nicht einmal als weißer Fleck auf der Landkarte verzeichnet ist und sich dabei im "unfassbaren Weiß" einer endlosen Schneelandschaft verlieren, muss man unwillkürlich an Malewitschs Satz denken: "Das suprematistische unendliche Weiß erlaubt den Sehstrahlen, sich ohne Grenzen fortzubewegen", beschrieb der Maler in den zwanziger Jahren seinen Aufbrauch ins Gegenstandslose.

Mit diesem eindrucksvollen Schlussbild verwirft Poschmann den zweckgebundenen Aufbau-Konstruktivismus Lissitzkys und kehrt zu seiner "nutzlosen" Variante, dem Suprematismus des Lissitzky-Lehrers Malewitsch zurück - ein Bekenntnis zur Autonomie der Kunst. Das Weiß der Schneelandschaft in ihrem Buch gleicht nämlich jener Wüste, in der der Künstler nur noch die "gegenstandslose Erregung" und das "befreite Nichts" herrschen sah. In ihr steht die Kunst "als Ausdruck der reinen Empfindung ... die keine praktischen Werte, keine Idee, kein ›gelobtes Land‹ sucht". Der einzige kleine Schönheitsfehler dieser faszinierenden Metaphysik der frühen Avantgarde: wie zum Verwechseln ähnelt sie dem alles zerstrahlenden Weiß des GAU.

Marion Poschmann: Schwarzweißroman. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2205, 320 S., 19,90 EUR


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