Morgens um sieben war die Welt noch in Ordnung. Der Sonntagshimmel strahlte blau-weiß. Das 50-Meter-Becken im Kreuzberger Prinzenbad glitzerte türkis und unberührt in der Sonne. Noch sprangen einem keine kleinen, zeternden Jungs in Schlabberhosen unerbittlich auf den Kopf. Da sollte ich zum Kulturbrunch ins Kanzleramt? Was sollte ich im Traumpalast am Spreebogen? Hier gab´s doch auch belegte Brötchen! Lieber hätte ich mich auf der Terrasse in einen Plastiksessel gelümmelt, in Ruhe Sonntagszeitung gelesen, nach Traumprinzen Ausschau gehalten oder mit Rainald Goetz ganz privat einen auf Kulturdialog gemacht. Doch dann siegte die Neugier. Kulturbrunch. Sieht dem Schröder ähnlich. Dritter Weg zwischen Frühstück und Mittagessen. Wie wü
52;rde das aussehen? Im Kanzleramt traf ich dann Herrn M. Unten stierte Herrn Lüpertz´ Bronzephilosophin in den Ehrenhof. Er strebte auf der Freitreppe aus grünem Serpentin in den Kanzlergarten. Herr M. ist gerade arbeitslos. Kürzlich sah man ihn in dieser Kolumne seinen Schreibtisch aufräumen. "Ist doch ein guter Weg, sich seine Steuergelder zurück zu brunchen" rief er mir zu. Schon. Aber am Paul-Lincke-Ufer wäre er geschmacklich wirklich besser weggekommen. Die Küche im Kanzleramt hatte den blitzartigen Strategiewandel des Hausherrn von der internationalen Solidarität zum deutschen Weg nachvollzogen. Auf den Tischen vor den weißen Steintürmen, auf denen im Kanzlergarten die Bäume in den Himmel wachsen, gab es keine fingerfood aus aller Welt. Brühwurst statt Brioni! Der Brunch war gespickt mit den musts des Berliner Büffets: Buletten, Senf, Kartoffelsuppe. Alle saßen auf Holzbänken, tranken Bier, Limo und Kaffee. Ein Hauch von Laubenpieper lag in der Luft. Hier können Familien Kanzler kochen! Keinen hätte es gewundert, wenn der Chef, leger im offenen weißen Hemd, gerade aus Hannover eingeflogen, die Würstchen selbst auf den Grill gelegt hätte. Gelassen wanderte der joviale Herrscher von Holzbank zu Holzbank. Kein Gedanke an Septembertage. Ab und zu stocherte sein Tischnachbar in den Himmel über Berlin, als ob er sagen wollte: Die paar Schäfchen-Wolken da oben machen noch lange kein Gewitter. Nur als ein paar junge Leute in Lackanzügen schwitzten und die Musikperformance "Phase 7" aufführten, setzte er das Dritte-Weg-Gesicht auf: so zwischen Irritation und Ingrimm. War es die starke Sonne? Oder der Gedanke an die Phase 8 in 44 Tagen? Als die Extremsopranistin in dem weißen Poncho vorne gerade überzuschnappen schien, guckte er wie jemand, der sein neues Handy erklärt bekommt. Plötzlich sprang er elektrisiert auf. Die Patti stand im Rahmen! Mrs. Smith soll bei ihrem Kölner Konzert Antikriegsparolen von sich gegeben haben, raunte sich die kleine Kanzlerkolonie zu. Und für seine pazifistischen Freunde hat der Gerhard ja immer ein paar Schnittchen übrig. Küsschen, Küsschen für die Fotografen. Make love, not war! Eigentlich kein schlechter Sonnentag für einen Brunch. Aber es lag ein Hauch von Dämmerung darüber. "Das ist kein Abschluss. Sondern ein neuer Anfang" sagte der Kanzler fast bittend. Doch sachte sachte zerfiel sein Kulturstreuselkuchen wie der am Büffet gegen Nachmittag. Patti musste schnell noch woanders hin. Herr M. war schon lange weg. Der Fotograf Andreas Gursky und Kunstsammler Heinz Berggruen irrten auf einsamen catwalks durch den Garten. Staatsdichter Durs Grünbein gab gemessene Interviews. Klaus Staeck fotografierte wieder alles, was nicht fotografierenswert, aber gut für den Nachruhm war. Natürlich hatte er auch wieder einen kleinen Aufruf in seiner ewigen Jute-Tasche. Aber über die Hartz-Kommission oder die amerikanischen Gerechter-Kriegs-Intellektuellen wollte keiner debattieren. Dafür klönten überall kleine Stammtische: Drei Zeit-Redakteure hatten noch wichtige Redaktionsinterna zu besprechen. Eine Seilschaft aus dem Ruhrgebiet, die es weit gebracht hat in Berlin, konnte wieder Jugenderinnerungen austauschen. Am Schluss verkrümelten sich alle grußlos und so unauffällig, wie sie gekommen waren. Man meinte, eine Sanduhr rieseln zu sehen: die Zeit läuft aus. Ist Herrschaft unendlich? Die byzantinische Staatskulisse lag Auge in Auge, Steinzahn um Steinzahn mit dem Reichstag schräg gegenüber. Das "Bürgerforum" hat man vergessen zu bauen. Als aufgerissener Steinhaufen dümpelt es vor des Kanzlers Machtsitz. Mit "Never let me go" hatte die Kapelle ihm am Ende aus der Seele gespielt. Doch erst müssen alle mal wieder auf den Königsweg der Demokratie. Das hatte Patti Smith der Berliner Republik nämlich auch eingebläut. Zwei Tage vorher an der Spree. Der Souverän saß auf Thermodecken im nächtlichen Monbijou-Park, biss in Hähnchenschenkel, ließ die Rotweinflaschen kreisen und bejubelte die zierliche Frau mit ungefärbtem, aschgrau wehendem Haar. Vom ultraviolett entflammten Alten Museum auf der anderen Seite der Spree sang sie ihm zu: People have the Power.