Schlapp

linksbündig Wo steckt eigentlich die Avantgarde?

Was ist eigentlich noch Avantgarde?« Die Frage schrie sich kürzlich ein verzweifelter Künstler im Berliner Gorki-Theater aus dem Leib. Beantworten konnte er sie nicht. Karussell - die sensationell missglückte Uraufführung eines Stücks von Klaus Chatten ist nämlich der Prototyp der falsch verstandenen Avantgarde. Das passiert im Stadttheater, wenn es glaubt, »soziale Verantwortung« beweisen zu müssen. Der Versuch, Probleme vor Ort ästhetisch aufzunehmen, endet in ihrer Verdopplung. Die verkrachte Berliner Sub-Boheme findet sich bei Chatten ziemlich ungefiltert auf der Bühne wieder. Die schrille Maskerade kann das nicht überdecken. Zwar gehörte das Spektakel ins Arsenal des avantgardistischen Theaters. Doch zwischen Fummel, Techno und der obligaten Filmleinwand endet es im Berliner Karussell beim Klamauk.

Was Avantgarde einmal war, konnte man in den letzten zwei Monaten im Berliner Gropius-Bau in der Ausstellung !Avant!Garden in Mitteleuropa 1910 bis 1930 noch mal studieren. Man rieb sich die Augen, mit welcher sozialen Aufbruchsstimmung das 20. Jahrhundert begann. Wer avant war in Europa und wer après, lässt sich da nicht mehr so genau sagen. Zwar galten Expressionismus, Fauvismus, Futurismus, Kubismus und die Abstraktion damals als Dekadenz des Westens. Doch viele Quellen der Avantgarde liegen in Mitteleuropa. Der kroatische Kunstkritiker Vladimir Lunaek prägte das dem amerikanischen Medienkritiker Marshall McLuhan zugeschriebene Wort vom global village. Und im polnischen Sztuki stand eines der ersten Museen für die moderne Kunst der Welt. Die mitteleuropäische Avantgarde war der Vorreiter der westlichen Postmoderne: Schon 1918 sprach der polnische Kunstkritiker Leon Chwistek von den »multiplen Realitäten«. Die europäischen Avantgarden verband ein zivilgesellschaftliches Netzwerk: László Moholy-Nagy war Lehrer in Gropius´ Bauhaus. Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm und die Aktivistáks der Ma-Gruppe, die ästhetischen Ursozialisten des Doyens der ungarischen Avantgarde, Lajos Kassák, inspirierten sich gegenseitig. Donald Rumsfeld mag ein europäisches Schisma provozieren. Doch das gemeinsame europäische Erbe der sozial engagierten Avantgarde kann auch eine Ergebenheitsadresse mitteleuropäischer Politiker an die USA nicht auslöschen.

Die Frage ist nur, wie man dieses Erbe reaktiviert. Wo bitte, geht es heute eigentlich zum Fortschritt? Wenn man in Berlin auf die SPD-Parteizentrale in der Kreuzberger Wilhelmstrasse zugeht, sieht man noch einen Anflug von Avantgarde. Wie der Bug eines Schiffes pflügt die gläserne Spitze des SPD-Flaggschiffes richtungsweisend durch die Luftmassen nach vorne, auf dem Dach ein flaches Stahlgerüst, das entfernt an Tatlins Monument für die Internationale erinnert. Darauf thront, anders als bei dem verschämten Derivat in Orange, das noch das Bonner Erich-Ollenhauer-Haus zierte, eine richtige rote Fahne. Doch sie hängt schlapp. Auch wenn der Architekt Helge Bofinger mit seinem dreieckigen Keil den Konstruktivismus der zwanziger Jahre zitiert. Von der experimentellen Energie ihrer intellektuellen Vorläufer ist in dem sozialdemokratischen Remake nichts zu spüren. Das Bauhaus einer neuen sozialen Utopie versteckt sich nicht hinter den blau verglasten Arbeitswaben. Avantgarde buchstabiert die SPD heute wie Neoliberalismus.

Dass die Sozialdemokratie verrät, was ihr einst teuer war, daran hat man sich inzwischen gewöhnt. Doch wie steht es mit der Kunst? »Die konstruktive Kunst soll das Leben nicht schmücken, sondern organisieren«. So apodiktisch wie El Lissitzky und Ilja Ehrenburg würde die Maxime sozialer Gestaltung heute niemand mehr formulieren. Oder wie Lyonel Feininger eine »Kathedrale der Zukunft« skizzieren. Die Euphorie der Avantgarde klingt unangemessen pathetisch, wo man in den Trabantenstädten ihre Scherben zusammmen kehrt. Der Hitzeschild, der die »neue Einheit« von Kunst und Technik verbinden sollte, ist geborsten. Von ihrem Neuen Menschen ganz zu schweigen. Freilich bräuchte die neue soziale Architektur, um die jetzt alle ringen, schon so etwas wie eine Avantgarde. Auch wenn die Einheitsform des Bauhauses keine Zauberformel für die Postmoderne mehr ist. In Zeiten wie diesen möchte man eigentlich dem Münchener Kunsthistoriker Walter Grasskamp zustimmen. Der hatte sich schon vor Jahren gefreut, dass die Avantgarde nicht mehr vor der Front marschieren müsse, sondern sich als Deserteur in alle Richtungen verkrümeln dürfe. Doch dass die Utopie vom Luxus für alle derweil IKEA überlassen bleibt, ist auch nicht wirklich befriedigend.

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