Schwindelig vor Freude

Bücher John Glasscos Memoiren „Die verrückten Jahre“ sind das zeitlose Manifest einer bohèmesüchtigen Jugend

Verschwende Deine Jugend. Spätestens seit Jürgen Teipels berühmtem Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave aus dem Jahr 2001 avancierte der Satz zu einem geflügelten Wort. Hinter dieser Sehnsucht nach Verausgabung steht der Wunsch, Kunst, Eros und Leben zu verbinden. Und wem gebührte dieses Vorrecht mehr als Tennessee Williams Süssem Vogel Jugend?

Ganz so dokumentarisch wie Teipel, der hunderte Interviews für sein Buch führte, ist John Glassco, genannt Buffy, rund siebzig Jahre zuvor nicht vorgegangen. Doch die Erlebnisse im Paris der zwanziger Jahre, die er unter dem Titel Die verrückten Jahre beschrieben hat, lesen sich auch wie die Bestandsaufnahme einer Künstlerszene. Jedenfalls die Motive ähneln sich frappierend: „Ich war erst siebzehn und hatte das Gefühl, meine Zeit und meine Jugend sinnlos zu vergeuden“ schreibt der junge Mann im Winter 1927, kurz bevor er sein Studium an der McGill-Universität in Montreal aufgibt. Die Aussicht, als vertrockneter Wissenschaftler zu enden, schreckt ihn zutiefst. Um seine Jugend sinnvoll zu vergeuden, verlässt er, achtzehnjährig, seine langweilige Heimat und geht nach Paris.

Das große Abenteuer

Sätze wie diese kann man kaum anders denn exemplarisch lesen. Obwohl sie ganz persönlichen Lebenserinnerungen entstammen. Erinnerungen sind das Medium des Alters. Doch John Glassco, Spross einer kanadischen Kaufmannsfamilie aus der anglophonen Oberschicht Montreals, hat diese „Memoiren“ im Alter von zwanzig Jahren aufgezeichnet. Ein Jahr nach dem ganz großen Abenteuer seines Lebens. So wie heute ein junger Künstler nach Berlin gehen würde, zieht ihn die Bohème-Hauptstadt an der Seine magisch an.

Kaum angekommen, stürzt er sich mit seinem Freund Graeme Taylor ins Getümmel: Die beiden ziehen von einer halbseidenen Kaschemme zur nächsten, trinken Portwein mit Grenadine im Dôme, Sélect oder Dingo und schwärmen durch die Metropole „bis in den grauvioletten Morgen“. Die Szenerie in diesem Buch ist mitunter wie mit den Resten aus der Schatztruhe der Bohème-Klischees möbliert: Mal trinken die vergnügungssüchtigen Jungs ihre Frühstücksmilch aus Marmeladengläsern, schlafen auf strohgefütterten Holzbetten in den Ateliers befreundeter Künstler. Und lesbische Damen, die gern im Frack tanzen und ein Monokel tragen, dürfen natürlich auch nicht fehlen.

Obwohl sie von Ernest Hemingway über André Breton bis James Joyce nach und nach so ziemlich alle Berühmtheiten der damaligen Zeit treffen, schlüsselt Glassco nicht wirklich ein soziales Feld auf, sondern begnügt sich meist mit Namedropping. Doch was das Buch so exemplarisch macht, ist das Gefühl nervöser Exaltiertheit und ruheloser Neugier, mit der die beiden durch ihre Traumstadt streifen. Bei Glassco paaren sich eine herzerfrischende Beobachtungsgabe und ein - für sein jugendliches Alter - erstaunlich selbstsicheres literarisches Urteil. Hemingways Prosa hält er für „einen schlaffen Prometheus, der sich selbst gefesselt hat“. Und Gertrude Stein beschreibt er bei einem Besuch in ihrem Salon als „rhombenförmige Frau“, deren Fußgelenke „an Tempelsäulen“ erinnerten.

So konventionell die Perspektive des Ich-Erzählers ist, so sehr lässt man sich von seiner jugendlichen Frische und dem Gefühl vibrierender Sinneslust einfangen, das das ganze Buch durchzieht. Als Buffy und Graeme einen Abstecher nach Nizza machen, wird ihm, als er das zum ersten Mal das Mittelmeer vom Zugfenster aus sieht, „schwindelig vor Freude“. So geht es ihm im Grunde die ganze Zeit. „Glück“, denkt er sich „war noch immer die Richtschnur meines Lebens, ein Ding, das man packen und genießen durfte“.

Nicht nur wegen dieser euphorisierenden Stimmung sind Glasscos Erinnerungen das zeitlose Manifest der Jugend-Bohèmes, von der die Welt immer wieder periodisch durchzogen wird. Nicht umsonst nennt er als Vorbild den britischen Autor George Moore, der fünfzig Jahre zuvor selbst nach Paris ging, um dort Kunst zu studieren. Den Autor des Kultbuches Bekenntnisse eines jungen Mannes, inzwischen 87-jährig, besucht er auf der Durchreise in London. Als er aufgeregt vor seinem literarischen Idol steht, bemerkt er irritiert: „Seine Haut fühlte sich an wie Pergament“.

Jung sei die Bohème, egoistisch und eitel. Folglich will sich der jugendliche Memoirenschreiber“ „in seiner Respektlosigkeit, Genusssucht und Selbstgefälligkeit“ zeigen. Und mehr als einmal rechtfertigt Glassco, dass er und sein Freund sich „Genuss, Müssiggang und Sinnenfreude“ hingeben. Diese individuelle Disposition erklärt er dann aber kurzerhand zum sozialen Programm, wenn er schreibt: „Ich bin nämlich davon überzeugt, dass das Elend der Menschen zur Hälfte aus einem Zuwenig an Muße, kulinarischen Genüssen und sexueller Befriedigung im Alter zwischen siebzehn und zwanzig resultiert“.

Unter der Pont Neuf

Trotzdem ist dieses Buch keine blasierte Streitschrift für die Jeunesse dorée. John muss, als Vaters Überweisungen ausbleiben, betteln und sich durchmogeln: Er sitzt ungedeckten Schecks auf, verdingt sich als Ghostwriter einer verrückten Prinzessin; eine Zeit lang sogar als eine Art Edel-Callboy für reifere Damen. Und in Glasscos Erinnerungen kommt bereits eine Ahnung von dem auf, was man heute Prekariat nennt, wenn er sein Leben mit den Vokabeln „Armut und Aktivität“ beschreibt.

Gänzlich angekommen in der geliebten Stadt Baudelairs und Villons fühlt er sich nämlich, als er einmal unter der Pont Neuf übernachten muss und mit einem Bettlerpärchen um den Schlafplatz streitet. Doch selbst die Weltfinanzkrise, die das sorglose Leben plötzlich überschattet, erschüttert nie das, was Glassco die „himmlische Ratlosigkeit der Jugend“ nennt.

„Für mich, gerade mal achtzehn, war die körperliche Lust ein riesiges Problem. In diesem Alter interessiert man sich immer nur für Sex, es scheint das Wichtigste im Leben zu sein“ schreibt Glassco im Verlauf einer Affäre mit Kay Boyle, der New Yorker-Autorin, die im Buch Diana Tree heißt. Glassco, den eigentlich eine homerotische Beziehung mit Graeme verbindet, hat zahllose Affären mit Frauen: Bei der schönen Geliebten des Malers George Malkine holt er sich einen Tripper. Das erste Zusammensein mit einer französischen Prostituierten nennt er „eine Offenbarung“. Dennoch ist sein Buch mehr als die amüsante Chronik eines juvenilen erotischen Taumels. In Wahrheit ist es nämlich das Dokument eines Kampfes der Kunst gegen das Leben.

Denn Buffy ist ja mit einer bestimmten Absicht nach Paris gekommen: „Mehr denn je war ich entschlossen, Dichter zu werden“ schreibt er in Montreal. Das aufregende Leben im Magnetfeld der literarischen Berühmtheiten und erotischen Eroberungen fesselt ihn jedoch bald mehr als der Drang, unbedingt schreiben zu müssen. Am Ende eines rauschhaften Jahres erkennt er sein Schreibbedürfnis als bloßen „Ausdruck jugendlicher Aufsässigkeit“, eine „Ausrede, von zu Hause wegzugehen, ein Vorwand faul zu sein“. Und gesteht offenherzig ein: „In Wahrheit hatte ich nichts zu sagen“.

Als großer Autor ist der 1981 gestorbene John Glassco nicht in die Literaturgeschichte Kanadas eingegangen. Auch wenn er 1971 für einen Gedichtband noch einen Staatspreis seiner Heimat errang. Aber zumindest die atemlose Kapitulation vor dem Leben, die dieser gescheiterte Autor in seiner Jugend vollzog, hat er in ein unwiderstehliches Stück Literatur verwandelt.

Die verrückten Jahre. Abenteuer eines jungen Mannes in Paris. John Glassco. Aus dem Englischen von Matthias Fienbrok. Hanser, München 2010, 334 S., 21,50

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