Singles

Berliner Abende Kolumne

"Schluss mit der Zwangsprostitution." Eigentlich will ich Klaus Wowereit noch zurufen, dass ihn ja niemand zwingt, Politik zu machen, als er Samstagmittag auf dem Kudamm den Laster der Berliner Aids-Hilfe entert. Aber mit dem orangenen Halsband wirbt er ja für eine gute Sache. Da wollen wir mal nicht so gehässig sein. Und gegen so viel gute Laune kommt man einfach nicht an. Also Deckung! Doch dem jovialen Dauerwahlkämpfer entgeht keiner der schon ziemlich angeheiterten CSD-Gäste ungeküsst: weder der knackige Go-go-Tänzer im Regenbogenslip, noch der grauhaarige Punk im Schottenrock mit Nasenring, nicht einmal die Notarzt-Apotheke auf vier Beinen. Ein paar Damen am Straßenrand quieken vor Begeisterung über Wowi: Der ist ja wirklich so!

"Ich hab´s ja nicht so mit Karneval", hatte mein Bruder noch unter der Woche geknurrt, als ich ihm erzählte, dass ich dieses Jahr beim CSD auf einem Wagen mitfahre. An und für sich ein guter Kerl, aber eben doch très hetero, ist er mit seinem Engel ins Brandenburgische geflüchtet. Gut - Karneval ist jetzt auch nicht so mein Fetisch. Ich lass mir lieber die Füße lecken, als die Nase rot anmalen. Aber Wellness-Hotel statt Party? So viel schrilles Volk sieht man doch das ganze Jahr nicht. In der U-Bahn hält ein Glatzenduo in Lederhosen Händchen. Die Fusion von Lesbe und Punk zu einem einzigen Phänotypus steht offenbar unmittelbar bevor. Und bei unseren Freunden von der Transenfraktion sind gerade die Kostüme der DDR-Linie Interflug die Renner. "Put your legs in the upright position" raune ich den zwei Junx vor mir zu, die sich noch schnell die Nase pudern und das taubenblaue Stewardessenschiffchen schräg ins Gesicht schieben. Sie giggeln. Dann stürmen wir hoch. Es kann losgehen.

Sonst habe ich immer am Straßenrand gestanden. Diesmal ist´s andersrum. Hoch auf dem bunten Wagen kann ich verflossene Liebhaber huldvoll vorbeiziehen lassen. Hallo! Küsschen! Vor allem sehe ich den Leuten in die Augen, vor denen ich mich früher immer gewarnt habe. Sie sitzen in Cafes und kommen in Khaki-Hosen aus den Shoppingmalls. "An so viele Leute kommen wir sonst nie ran", begeistert sich Phil, der neben dem Wagen jede Menge Giveaways verteilt. Geniert verstecken Touris und Schaulustige die kleinen Cruising-Packs in den Einkaufstüten und grinsen über sein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck: blow-job? Während wir hier noch für Safer-Sex werben, ist auf dem GMF-Wagen sechs Stationen hinter uns schon die Hölle los. Ein Doppelstöcker voll gut geölter, kopulationswilliger Designerboys deluxe aus dem Szeneolymp Café Moskau, die raven, dass der Truck wackelt. "Hast du ne Einladung"? fragt mich der schmalhüftige Hüne am Aufgang und spannt die nackte Skulpturenbrust. "Nee", spiele ich die Unschuld vom Lande und schaue ihm tief in die blauen Augen, "ich hab mich verlaufen". Grinsend lässt er mich passieren. Ohne Dauererektion kommt man gar nicht durch diesen Männerpfuhl. Die meisten kennt man ja aus dem Darkroom. Aber heute nachmittag wirken sie immer noch recht tageslichttauglich. Schließlich habe ich Felix auf dem Oberdeck aufgespürt. "Wie hältst du das aus?" frage ich ihn schweißüberströmt. Ganz einfach: Ausziehen! Irgendeine verrückte Alte schlägt ihm im Takt den Hintern rot. Er windet sich wie in einer Schlangengrube, bespritzt die Zaungäste an der Straße mit Schampus und schielt nach den glitzernden Tropfen, die sich die schon ziemlich lädierte Zazie van Zazou mit einer Pipette aus einem brauen Arzneifläschchen in die Erdbeerbowle tröpfelt. Was wäre die Welt ohne Designerdrogen?

Zwischen Potsdamer Platz und Reichstag erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt. Die Hitze ist unerträglich, der Asphalt schlägt Blasen, das Wasser aus den Spritzpistolen verdampft schon in der Luft. I wanna see ya daaance stöhnt die brasilianische DJane ins Mikro, und so genau kann ich jetzt nicht mehr sagen, ob die Hüftstöße, mit denen sich die zwei Arno-Breker-Jünglinge mit den auftätowierten Matrosenschleifen neben uns gegen die Truckerbrüstung schleudern, noch Tanzen sind oder schon - na ja.

Samstags gehört Vati mir! Soll man froh sein, den Versprechungen der gewerkschaftlichen Orientierung aus den siebziger Jahren widerstanden zu haben und der Veranlagung gefolgt zu sein? Schwer zu sagen, wer in dieser heißen Nacht eher auf seine Kosten kam. Die Steglitzer Normalos in karierten Hemden, die nach der Parade die Kinderwagen nach Hause zu Mutti schoben oder die zeigegeilen Halbnackten - frei schwebende Elementarteilchen jener Befreiungsbewegung, die gern ekstatisch We are family skandieren. Als ich nach der CSD-Party im Morgengrauen mit DJ Mercy am Spreeufer liege, sehen wir noch jede Menge Glückssucher im Club-Dreieck zwischen Kreuzberg, Friedrichshain und Treptow durchs Gebüsch schweben. Auf ihren blauen T-Shirts steht: Singles on tour.


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