Territorien der Macht

Raumkontrolle Grenzen sind in der Postmoderne noch nicht ganz obsolet geworden

Staatsvolk, Staatsraum, Staatsgrenze. Mit diesem Dreisatz lernten Studierende der Politikwissenschaft bis vor nicht allzu langer Zeit zu bestimmen, ob es sich bei einem politischen Territorium um einen echten Staat handelt. Alles drei kann man anfassen. Alles drei kann man messen. Im Zeitalter des global village, wo sich alles ortlos vernetzte, schien diese klassische Trias jedoch immer obsoleter. Wozu noch erdenschwere Heimat, wenn es doch Notebooks gibt, mit dem man überall und nirgends sein kann? Doch nehmen wir einmal die Vergeltungsschläge der israelischen Armee auf mehrere Hamas-Führer nach dem Selbstmordattentat in einem Jerusalemer Bus. Die offiziösen israelischen Stellen verblüfften bei ihrer Ahndung mit detaillierten Kenntnissen über die Bewegungen ihrer Gegner. Noch den Weg des kleinsten palästinensischen Autokonvois vermochten sie metergenau nachzuzeichnen. Zumindest für die Israelis ist Macht in erster Linie immer noch Kontrolle des realen Raumes. Denn wenn der so unwichtig ist, wie uns postmoderne Theoretiker einreden wollen, warum überwachen sie ihn dann so scharf?

Die Postmoderne gibt sich gelegentlich dem stimulierenden Euphemismus hin, Zeit und Raum lösten sich auf. Dass man sie elektronisch elegant überbrücken kann, lässt sich tagtäglich beim global chat beweisen. Oder beim globalen Börsenpoker. Dass sie aber ganz verschwunden wären, dürfte schwer zu belegen sein. Bleiben wir bei dem Beispiel Palästina. Der Landstrich im Nahen Osten ist direkt nach der Côte d´Azur und Hollywood das leuchtende Beispiel für einen erstklassigen Illusionstopos. Die Projektion einer geistigen, ja immateriellen Landschaft schuf sich eine Realität nach diesem Bilde. War es im Süden Frankreichs das Arkadien aus Licht, Luft und Farbe, war es am anderen Ende des Mittelmeers das des Glaubens. Nirgendwo kann man besser als in Palästina den Zusammenhang von Illusion und Raumbildung studieren. Das stinkende Bergnest des 16. Jahrhunderts, über das Besucher die Nase rümpften, stieg zur umkämpften Hauptstadt der Religionen. Schon der "spirituelle Imperialismus" (Bernard Wasserstein) der europäischen Großmächte im Heiligen Land, der sich mit einer obskuren Kirchenpolitik eines mythischen Raumes bemächtigen wollte, vergaß vor lauter religiöser Inbrunst nicht, den real existierenden Raum zu vermessen. 1865 legte der britische Captain Charles Wilson im Auftrag des Kriegsministeriums seiner Majestät, Königin Victoria, den ersten Katasterplan Jerusalems vor. Auch die "Utopie" Israel konnte nur mit einer militanten Raumpolitik die irrwitzige Besatzungs-Realität werden, die bis heute anhält. Die illegalen Siedlungen in der Westbank nennt das israelische Architektenteam Eyal Weizman und Rafi Segal in einem Projekt, das die Berliner Kunstwerke gerade präsentierten, eine Art "Zivile Okkupation".

Genau in diesem winzigen Flecken der Erde findet auch die Idee von der Grenzüberschreitung in der Globalisierung eine sinnfällige Grenze. Neben dem metallenen Grenzzaun, der Mexiko und die Vereinigten Staaten voneinander trennt, ist Palästina das schlagende Beispiel für den Grenzraum schlechthin. Auch hier findet sich die klassische Grenze: ein 145 Kilometer langer, acht Meter hoher Zaun, jeder Kilometer kostet eine Million Dollar, soll Juden und Palästinenser im Sommer 2003 endgültig voneinander trennen. Hier finden sich aber auch ganz neue Grenzformen. Die Westbank ist einer der fragmentiertesten Räume der Welt - ein unüberschaubarer Flickenteppich aus Siedlungen, befestigten Wehranlagen, konkurrierenden Sicherheitszonen und privilegierten Zufahrtsstraßen. Gegen die von Eyal Weizman und B´tselem, dem israelischen Informationszentrum für die Menschenrechte in den besetzten Gebieten, produzierte Karte der aktuellen jüdischen Siedlungen muss man den modischen Camouflage-Look der globalen Techno-Jugend wie die Farbe Uni vorkommen. Der italienische Architekturtheoretiker Stefano Boeri hat sechs hybride Grenzräume definiert, die sich weltweit ausbreiten - vom herkömmlichen Zaun um Militäranlagen bis zum "Phanton Limb", einem Gebiet, in dem nach dem Fall einer realen Grenze ein "Territorium" geistiger Grenzziehungen den freien Güter- und Informationsfluss überlagert.

Labor der Welt ist ein großes Wort. Aber vielleicht ist Palästina deshalb doch eines, weil es die Dialektik der Globalisierung vorwegnimmt - ein bizarres In- und Nebeneinander von immateriell und materiell. Schon die Idee von "Eretz Israel" war immer eine Melange aus real und symbolisch. Mag die Macht der Symbole auch überhand nehmen - bis zum Utopia der transnationalen Republik ist es noch ein langer Weg. Das unsichtbare Empire, das Michael Hardt und Antonio Negri ausfindig gemacht haben wollen, mag "deterritorialisiert" sein. Doch selbst die USA sind noch längst nicht der "ortlose Hegemon der Weltgesellschaft", der nur für abstrakte Werte kämpft. So hatte sie kürzlich der deutsch-israelische Historiker Dan Diner mit verächtlichem Seitenblick auf die "alteuropäische Territorialität" bejubelt. Der Mann liest wahrscheinlich keine amerikanischen Zeitungen. Hatte sich nicht erst dieser Tage herausgestellt, dass der völkerrechtswidrige Angriff auf den Irak vor allem dem Grund geschuldet war, "Raum" im Irak zu schaffen - für die Verlegung der in Saudi-Arabien stationierten amerikanischen Truppen, einem Verbündeten, dessen "Territorium" heikel, ja gefährlich zu werden verspricht? Ganz auf die immaterielle Prägekraft der Symbole des american way of life wollen sich die USA offenbar auf dem Rest des Globus doch noch nicht verlassen. Wie John "Lackland", König von England, der seine französischen Lehen verlor und 1215 die Magna Charta unterzeichnen musste, wollen sie nicht dastehen. Von einer "Renaissance der Geopolitik" zu sprechen, wie manche Politologen, wäre aber gewiss übertrieben. Schließlich ist der "virtuelle Raum" ja keineswegs über Nacht verschwunden. Aber sowohl die reale Macht, als auch die Utopie der Machtlosigkeit wie sie sich beispielsweise seit 32 Jahren im dänischen "Freistaat" Christiana manifestiert, braucht zunächst offenbar immer noch - die Organisation von Raum.

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