Texte und Kontexte

LITERATUR OHNE KRIEG Auf der Leipziger Buchmesse 1999 präsentierte sich eine narkotisierte Nation in einem merkwürdigen Nebeneinander von Amüsement und Entsetzen

Arbeitsplätze statt Militäreinsätze - Bundeswehr raus aus Jugoslawien« Die zwei einsamen Antimilitaristen auf dem Platz vor dem gläsernen Tonnengewölbe der neuen Leipziger Messe weit draußen vor den Toren der Stadt halten unsicher ein weißes Transparent mit roten Buchstaben hoch. Beachtet werden sie nicht. Der Strom der Stadtflüchtlinge, der aus den funkelnagelneuen, orangeblauen Straßenbahnen quillt, überrennt sie kurzerhand auf dem Weg zur Buchmesse. Luftballons und bunte Bänder flattern im Frühlingswind. Vor dem im ersten Sonnenschein glitzernden Kristallpalast steht eine überdimensionale rote Rose. Bücherland lockt. Da wird man sich doch nicht von so ein paar verhärmten Gerechten den Spaß verderben lassen!

Buchmessen sind auch immer so etwas wie geistige Vollversammlungen der Nation. Für ein paar Tage verlagert sich der intellektuelle Gravitationspunkt nach Frankfurt oder nach Leipzig. Die Quecksilberseen der Gerüchte, Begegnungen und plötzlichen Wirbel reagieren wie soziale Seismographen. Wollte man die Stimmung in Leipzig in diesem Frühjahr auf die Bewußtseinslage der Nation hochrechnen, dann erlebte sie den gravierendsten Einschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte wie narkotisiert. Die Buchmesse bot in diesem Frühjahr ein merkwürdig unverbundenes Nebeneinander von Entsetzen und Entzücken. Bücher über das Fin d'Siecle gingen gut. Die Endzeit auf dem Balkan blieb weit weg. Alle paar Stunden ließ ein Kanonenböller einen Konfettiregen über der fröhlichen Menge in der Vergnügungskuppel zwischen den Ausstellungshallen niedergehen. Doch die Detonationen des realen Krieges, an dem seit über fünfzig Jahren wieder deutsche Soldaten teilnehmen, fanden kaum Beachtung. Lag es am Alter der Besucher? Mehr noch als im letzten Jahr glich die Messe einem Kinderkreuzzug für den Aufschwung Ost. Mit Schulklassenabordnungen, die morgens die Straßenbahnen zum Messegelände verstopften, sollten wieder eine Fülle und ein Interesse vorgetäuscht werden, das real viel geringer war als im letzten Jahr. Geglaubt hat die neue Erfolgszahl der Messeleitung von angeblich 50.000 Besuchern in diesem Jahr so recht niemand. Am Samstag nachmittag konnte nur die Fußballübertragung die Menschen in der Halle halten. Am Krieg waren sie mäßig interessiert. Ebensowenig am Engagement. Eine einzige Unterschriftenliste versickerte in den Gängen. Günter Grass' Anklage der überforderten Politik, die sich nach einer von Anfang an verfehlten Jugoslawien-Politik nun nicht mehr anders zu helfen wisse als mit Bomben, ging im Betriebsrauschen unter. Als Udo Samel seiner Lesung der neu edierten Nachkriegstagebücher Viktor Klemperers ein Antikriegsgedicht Christian Morgensterns voranstellte, hätte man im Gewandhaus eine Stecknadel fallen hören können. Die klitzekleine Demonstration blieb folgenlos, wie so vieles. Gähnend nahmen ein paar Zuhörer im Lesecafé »Berliner Zimmer« die Kritik des 1922 in Plovdiv geborenen Schriftstellers und Filmemachers Angel Wagenstein zur Kenntnis, der den Militärschlag ein »Verbrechen gegen Serbien« und einen Krieg am Ende dieses Jahrhunderts »abenteuerlich« nannte. War man in Frankfurt vor ein paar Jahren noch bereit, Bomben gegen die Rechtschreib reform zu werfen, riskierte in Leipzig in diesem Jahr niemand den Ausbruch aus der Vergnügungsroutine.

Apropos Spaß. Ganz ohne den geht es nun aber auch nicht. Kunst und Kultur sind, wie Adolf Dresen in einer Attacke gegen die Kritiker des »Trends zum event« in Friedrich Dieckmanns alljährlicher Leipziger »Literaturkonferenz« zu bedenken gab, ohne sinnliches Vergnügen schwer denkbar. Der Leipziger Vergnügungspark unter Glas, der diesen Trend zu einer paradigmatischen Höchstform entwickelt hat, wäre demnach als »nicht erhabene Vermittlungsform« (Kathinka Dittrich-van Weringh) durchaus gutzufinden. Wenn da nicht seine Degeneration zur Konsumroutine wäre. Viele Lesungen machen noch keine Diskurskultur. Andächtig lagen die Fans ihren Lieblingen zu Füßen. Judith Hermann, die neue Madonna der wissenden Melancholie im langen violetten Gehrock und hochgestecktem blonden Haar, konnte sich nur mit Mühe einen Weg durch die Heerschaar ihrer jugendlichen Freunde zum Podium bahnen, um aus ihrem Erzählungsband: Sommerhaus, später vorzulesen. Der Andrang zur Grass-Lesung in der Leipziger Stadtbibliothek, wo der inzwischen fast legendäre Dichter aus seinem neuen Buch Mein Jahrhundert vorlas, glich einer Leipziger Montagsdemonstration. Der kurze Augenblick, als der klein und krumm gewordene Mann mit der Baskenmütze einen kurzen Augenblick vor dem Gebäude auftauchte, schien eine Epiphanie. Der grantelnde Altmeister der Einmischung stand da wie ein leibgewordener nationaler Mythos, den zu bekämpfen der greise britische Historiker und Marxist Eric Hobsbawm, der in diesem Jahr den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhielt, zur Aufgabe der Schreibenden erklärt hatte. Aber Fragen, Kritik, gar Streit, flammende Appelle während der Lesungen? Fehlanzeige. Die bloße Erscheinung genügte. Lange noch standen die Reihen der Signatursuchenden.

Auch die um lustvolles Verstehen schwer ringenden Schwerpunktthemen der Buchmesse, sind bloße Problemfeigenblätter, die nicht allzusehr stören sollen. 120 eingeladene bulgarische Verlage konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß auf diesem angeblichen Ost-West-Forum mit Angel Wagensteins Buch Pentateuch sage und schreibe ein einziges Buch aus dem Bulgarischen übersetzt wurde. Und wie üblich wurde der Gemeinschaftsstand des diesjährigen Gastlandes - wie schon im letzten Jahr bei Rumänien - möglichst abseitig präsentiert. »Brücken der bulgarischen Moderne« beschworen die Gäste in einer kleinen Ausstellung die lange Reihe bedeutender Schriftsteller eines Landes, dessen Schriftkultur die Alphabetisierung Osteuropas einleitete. Das Selbstbewußtsein, das man aus solch einer Vergangenheit eigentlich beziehen könnte, ist verschwunden. Der Hilferuf stellte das Bedürfnis nach Austausch und die Westfixiertheit des Ostens geradezu prostituierend zur Schau. Der Techno-Outfit der bulgarischen Underground-Band Infinity mit blondiertem Bürstenschnitt, Ray-Ban-Sonnenbrille und Ohrringen, die auf der Lesung des jungen Dichters Georgi Gospodinov seine schwere Avantgardelyrik mit Jazz unterlegte, wirkte wie die Bestätigung der Klage über die »sich selbst kolonisierenden Kulturen«, die der bulgarische Literaturwissenschaftler Alexander Kiossev anstimmte.

Und während die Schriftsteller im Südosten Europas nach den sozialistischen Jahren kaum noch dazu kommen, Texte zu schreiben, fielen ihnen die mühsam neu geschaffenen Kontexte für die intellektuelle Arbeit über Nacht wieder zusammen. Während von den stählernen Flugzeugträgern der Freiheit in der Adria die Kampfjets aufstiegen und Ost und West von der wackligen Brücke der Verständigung zurück in den Kalten Krieg der Blöcke bombten, nahm der gläserne Flugzeugträger der Literatur unbeirrt Kurs auf ein unbeschwertes Leseland. Mit den Bomben auf Belgrad, so hatte es noch Kulturstaatsminister Naumann bei dem steifen Eröffnungsritual im Gewandhaus beschworen, würde auch die Freiheit des Wortes gesichert. Was angeblich so unauflöslich verkettet sein soll, lag lautlos nebeneinander. Gleichmütig passierten Freitagnacht all die Freiheitsjünger auf dem Weg in die Kunsthochschule zur Techno-Party des Dumont-Internet-Literaturprojektes »Null« in der dunklen Wächterstraße das hermetisch abgeriegelte amerikanische Generalkonsulat.

Erwartet man zuviel von einem normalen Kommerztreff, wenn man sich mehr gesellschaftliche Bewegung wünschte? Die Intellektuellen sind sowieso machtlos, sagte Eric Hobsbawm. Sie können die Wahrheit nur aufschreiben. In dem auf der Messe präsentierten suhrkamp-Bändchen 100 Wörter des Jahrhunderts schreibt Heinrich Graf von Einsiedel zum Stichwort Luftkrieg: »Die Kriege in Korea und Vietnam allerdings beweisen, daß unterhalb des Einsatzes von Atombomben Luftherrschaft allein den Sieg nicht garantiert. Sieben Millionen Tonnen Bomben, dreimal soviel wie im Zweiten Weltkrieg, konnten Nord-Vietnam nicht in die Knie zwingen.« Wer wird es lesen?

Eine Messe ist eine Messe ist eine Messe, ist ein Markt ließe sich, frei nach Gertrude Stein sagen. Und das Buch ist eine Ware ist eine Ware, ist ein Ding. Aber auch wieder nicht. Bücher oder Bilder zeigen mehr als andere Arbeitsprodukte, was Karl Marx die »metaphysische Spitzfindigkeit« der Ware nannte. Der Zwitter Kunstwerk ist ein »sinnlich übersinnliches Ding«. Die Ware Buch transzendiert mit ihrer geistigen Intention ihren Warencharakter. Vielleicht liegt hier ein Schlüssel für eine Messezukunft, die ungewisser denn je ist. Der Mythos der Heldenstadt von 1989 ist verbraucht. Ständig werden Lobtiraden auf die »Publikumsmesse« Leipzig gehalten. Doch da hat sie noch Nachholbedarf. »Ich bin kein Leser, das ist mein Fehler« gesteht mir der Taxifahrer, der mich zur Messe hinausfährt und mich nach ein paar brauchbaren Versen für seine selbstgefertigten Hammond-Orgel-Songs fragt. Schon munkeln einige, diese Messe sei die vorletzte gewesen. Das Wort des Börsenvereinsvorstehers Ulmer von Leipzig als einem fröhlichen Kulturfest zeigt diese Unsicherheit.

Viele klagen, daß Leipzig keine Chance als Messe habe, weil hier keine Geschäfte gemacht würden, der ökonomische Unterbau fehle. Zwar hat Leipzig mit der Verlegung der Messe von den alten Messehallen am Marktplatz in das neue Messegelände auf der grünen Wiese eine einzigartige Chance vertan, der Literatur einen Standort im Herzen der Gesellschaft zu sichern. Aber wenn diese Messe sowieso schon eine Schimäre, eine Zitadelle der Projektionen ist, warum nicht aus der Not eine Tugend machen? Was soll daran so schlimm sein, daß die Messe mangels einer handfesten raison d'etre immer mehr als Spielplatz benutzt wird, um Stars, Beststeller und Trends wie im Treibhaus künstlich zu kreieren? Was macht der Dichter anderes? Was er für die Menschen tut, erklärte der 1931 geborene bulgarische Schriftsteller Ivan Teofilov im Messecafé Bulgaria in seinem Sommergedicht, ist, »eine Luft zu erfinden, in der sie leben können.« Mit dieser Leipziger Buchmesse könnte man auch zeigen, was Literatur in Wahrheit ist: reine Kunst.

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