Toter Russe

Erinnerungsarbeit In "Am Beispiel meines Bruders" hat Uwe Timm noch einmal die deutsche Vergangenheit aufgewühlt

"Der Russe sagt Njet". Mit diesem Satz, und nur mit diesem, pflegte meine Mutter die Sieger des Zweiten Weltkrieges immer zu charakterisieren, wenn die Rede auf die Erlebnisse des Nachkriegs kam. Russland hatte sie nie gesehen. Aber der eine Russe, den sie womöglich mal erlebt hatte, stand für sie für alle. Noch im Frieden wirkte ein nie abgelegtes Feindbild nach. Wenigstens in der sprachlichen Erhebung sollte die Niederlage gegen den Untermenschen aus dem Osten nachträglich aufgehoben werden.

Der Russe - auch in Uwe Timms neuem Buch stößt man auf diesen Kollektivsingular. "Feb.25 Wir gehen zum Angriff auf eine Höhe. Der Russe zieht sich zurück." Geschrieben hat diese Sätze sein Bruder, Karl Heinz Timm, geboren 1924 in Hamburg, gestorben 1943 in einem Lazarett in der Ukraine. Uwe Timms Bruder war Soldat, nicht irgendein Soldat, sondern Panzerpionier in der SS-Totenkopfdivision, einer Eliteeinheit, gebildet aus Mitgliedern der Wachmannschaft des Dachauer KZ. Karl Heinz Timm war Soldat wie der Vater, der als Freikorpsler im Ersten Weltkrieg auf dem Baltikum gegen die Bolschewisten kämpfte.

60 Jahre nach dem Tod des Bruders hat der 1940 in Hamburg geborene Schriftsteller, der heute in München lebt, nun dieses Kriegstagebuch, das der 16 Jahre ältere Bruder vom Februar bis zum August 1943 führte, zum Anlass genommen, noch einmal die deutsche Schuld zu erforschen. Das ist ihm erkennbar schwer gefallen. Er konnte es erst, als Mutter und Schwester gestorben waren. Und die Erinnerung an den Bruder war sozusagen vergoldet. Der 16 Jahre ältere Bruder ist der blonde Junge, der den Kleinen in die Luft hob und "unseren süßen kleinen Uwe" in seinen Briefen aus dem Krieg zärtlich ermahnte. Um so schrecklicher die Ahnung, dass dieses geliebte Vorbild ein Mörder gewesen sein könnte: "März 21. Donez Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG", findet Timm als Eintrag in dem kleinen hellbraunen Notizheft.

Leitmotivisch kehrt dieser Satz in Timms schmalem Büchlein Am Beispiel meines Bruders wieder, ein Buch, das es in sich hat. Der Satz verkörpert eine unauflösbare Angst. Denn bis zuletzt hat Timm kein Indiz finden können, dass der Bruder selbst Russen getötet hat. Aber er hat auch keines dagegen finden können. Ein viel sagender Eintrag beschließt das Büchlein: "Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen." So bleibt etwas in der Schwebe. Genauso wie die Frage, ob der Vater bei der Organisation Consul war, die beim rechtsgerichteten Kapp-Putsch und dem Mord an Walther Rathenau eine Rolle spielte. In diesem Zwiespalt bewegt sich Timm heute noch. Mörderische Ambivalenzen wie diese, zumal in der eigenen Familiengeschichte, machen wahrscheinlich immun gegen die vorschnellen Reden von der neuen deutschen Normalität.

Salopp gesprochen ließe sich einwenden: Uwe Timm hat mit seinem Buch die Mottenkiste der deutschen Vergangenheitsbewältigung noch einmal geöffnet. Er hat nichts grundstürzend Neues darin gefunden, sondern Bewährtes, leider allzu Haltbares: die beschwiegene Schuld, die bewusstlose Verdrängungsleistung namens Wiederaufbau, die Mischung aus Erinnerungsverweigerung und Selbstmitleid. Exemplarisch dafür: der ungeliebte Vater. In einer eindrucksvollen Gratwanderung aus Empathie und Distanz, Härte und Zuneigung, zeichnet Timm sein Porträt: der Typ des charmanten Heiratsschwindlers, der nie einen richtigen Beruf hatte, seine Identitätsprobleme als Mann wie sein gefallener Sohn mit dem Militär gelöst hatte, sich nach dem Krieg aus dem Nichts, nur mit einer Pelznähmaschine, die er auf einem Hamburger Trümmergrundstück gefunden hat, eine neue Existenz als Kürschner aufgebaut hatte und als Alkoholiker und Pleitier endet.

Erinnerungsarbeit also, wie man sie aus vielen Beispielen kennt. Doch wie Timm sie arrangiert, ist das Entscheidende. Das Buch ist eine Collage aus nebeneinander gestellten Auszügen aus dem Tagebuch des Bruders, Erinnerungsfetzen, Redensarten, Traumsequenzen und Geschichtsbüchern. Es kann kein Zufall sein, dass Timm gerade in diesem Büchlein die Montage-Technik seines Romans Morenga von 1978 wieder aufnimmt. Darin verarbeitete er den Kolonialkrieg des deutschen Kaiserreichs gegen die Hereros und Hottentotten. Doch diesmal geht ihn der Stoff viel persönlicher an. Folglich läuft auch kein fiktiver Erzähler zwischen den Ereignissen mit. Mit diesem Erinnerungsmix bringt Timm das Fragmentarische und Unmögliche der "Bewältigung" besser auf den Punkt als jede exakte Historie, ohne aber auch fiktional abschweifen zu müssen.

So zeichnet das bemerkenswerte Buch auf avancierte, sehr persönliche Weise zugleich eine exemplarische deutsche Mentalitätsgeschichte. Hier sieht man den geistigen Rahmen für die 68-er-Revolte wachsen, wie sie Timm in seinem Roman Heißer Sommer von 1974 verewigt hat. Und wenn sich ein roter Faden durch das Buch zieht, dann der von den blutigen Folgen eines Feindbildes. Timm erinnert sich an einen Satz der Witwe des ehemaligen Nazi-Kreisleiters in Coburg, wo seine Familie damals wohnte: "Der Russe, sagte Frau Schmidt, wenn der mal kommt, dann nehm ich mir einen Strick". Doch vorher kamen die Deutschen. "Wenn nur Russland bald kaputt wäre", schreibt der Bruder an den Vater in einem Brief im August 1943. Was bringt einen Menschen dazu, ein Land, das er nie gesehen hat, in Blut und Asche sinken sehen zu wollen? Der Hass auf ein Klischee reicht bis zum Schluss: In den Schlachtpausen macht der Bruder einen "Spaziergang zum Toten Russen". Im Feld liegt ein erfrorener Feind - noch im Tod bleiben Russland und seine Menschen abstrakt. Erst dem Bruder gelang es, ein Nationalstereotyp zu durchbrechen. Auf einer Lesereise beschreibt Timm, wie er das Grab seines Bruders auf einem Soldatenfriedhof nahe Kanim, einer Stadt am Dnjepr, sucht. Einen Nachmittag lang sitzt er mit den Eltern seines Fahrers in einem Garten mit einem halb fertig gebauten Einfamilienhaus. Den Russen hat er dort nicht gesehen; aber Menschen aus Weißrussland.

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. Kiepenheuer, Köln 2003, 157 S., 16,90 EUR


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