Die Täter sind unter uns. Mit knalligem Titel beschrieb Die Welt Mitte März das Auftreten von rund 200 ehemaligen Stasi-Offizieren bei einer Veranstaltung im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Die semantische Analogie zu Wolfgang Staudtes Film Die Mörder sind unter uns von 1946 hatte Hubertus Knabe, der Autor des Artikels und Direktor des zur Gedenkstätte umfunktionierten Baus, gewiss sorgsam bedacht. Schließlich ging es ihm darum, das scheinbar ungestörte Nachleben einer mörderischen Diktatur zu geißeln. Und Marianne Birthler legte nach und warnte vor dem Vormarsch der alten Stasi-Kader.
Nicht, dass es die "Gesellschaft zur humanitären und rechtlichen Unterstützung" nicht gäbe, in der sich die ehemaligen Stasi-Offiziere nun offenbar organisieren. Doch wer György Dalos Erzählung Balaton-Brigade gelesen hat, wird die Rufe vom Comeback der Stasi gelassener sehen. Der 1943 in Budapest geborene Autor rollt das Phänomen von innen her auf. Sein Protagonist, Hauptmann Joseph Klempner ist zwar voller Ressentiments gegen fast alles im Westen: die Kaufhalle, die jetzt Reichelt heißt, die Kreditkarten und die EU. Doch der verrentete Diktatorenscherge, der da um den Platz der Vereinten Nationen, vormals Leninplatz, im Osten Berlin kreist, ist ziemlich auf den Hund gekommen: Sozial isoliert, Frau und Tochter haben ihn verlassen, resümiert er in sieben Spaziergängen das epochale im persönlichen Scheitern. Gehör findet dieser Unbelehrbare aber bei niemandem. Wenn man von seinem kranken Dackel Hugo absieht. Joseph Klempner ist ein gebrochener Mann. Angst muss man nicht vor ihm haben.
An dem Buch des 1943 in Budapest geborenen Dalos ist vor allem interessant, dass es überhaupt so geschrieben werden konnte. Hier wiederholt sich, was schon bei Florian Henkel von Donnersmarcks Film Das Leben der Anderen zu beobachten war. Noch vor wenigen Jahren wäre ein Sturm der Entrüstung losgebrochen, hätte man sine ira et studio gezeigt, was sich im Kopf der Menschen abgespielt hat, die "Schild und Schwert" der SED hielten. Differenzierende, gar kitschige Zwischentöne und die Täterperspektive sind jetzt erlaubt bei dem ästhetischen Umgang mit einem Thema, das bis dahin nur in Extremwerten und mit Opferpathos zu haben war.
Dalos ist gewiss nicht verdächtig, eine der wichtigsten Stützen der DDR-Diktatur eine ungewollte Legitimation zu verleihen. Nur weil er seinen Protagonisten auch als Opfer des eigenen Systems zeichnet. Um seine zum 25. Dienstjubiläum lange ersehnte Beförderung zum Hauptmann und Abordnung zum Fronteinsatz am ungarischen Balaton-See nicht zu gefährden, willigt der überzeugte MfS-ler Klempner nämlich - wenn auch mit Bauchschmerzen - ein, seine Tochter Tamara zu bespitzeln. Die hat sich zu seinem Schrecken in den trotzkistischen Exilchilenen Juan verliebt. Für einen Geheimdienstmann ein erstklassiges Sicherheitsrisiko. Nach dem Mauerfall bricht der Operative Vorgang "Venceremos", der aus der losen Überwachung wird, Klempner schließlich - psychisch - das Genick.
Dalos ist auch weit davon entfernt, die unheimliche Geheimpolizei als Gurkentruppe zu verharmlosen, weil er deren Offizier wie die bürokratische Karikatur seines großen Vorbildes Felix Dzerzinskys aussehen lässt, des legendären Gründers der Tscheka. Klempner ist eigentlich ein unauffälliger Schreibtischtäter. In einer besonders brenzligen Situation im historischen Sommer 1989, wo er nun erstmals selbst DDR-Urlauber in dem als verdächtig lebenslustig geltenden sozialistischen Bruderland überwachen soll, bringt er seine fiktiven Identitäten durcheinander. Trotzdem unterzeichnet dieser tschekistische Biedermann am Vorabend der Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich im August 1989 noch ohne große Skrupel das Geständnis eines Flüchtlingspaars, das dieses in eben jenes Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen zurückbefördern wird, das die alten Kader heute als besonders menschenwürdig loben.
Der empörungsfreie Umgang mit einem explosiven Thema überrascht bei einem so gebrannten Kind des real existierenden Sozialismus. 1968 wurde Dalos in den Budapester "Maoistenprozessen" angeklagt. Er erhielt Publikationsverbot und saß wegen unerlaubter Westkontake in Haft. Jahrelang wurde er selbst von der Stasi bespitzelt. Seiner Akte konnte er entnehmen, wie Mielkes Firma über jeden seiner Schritte unterrichtet war, als er den als "Anarchist" geschmähten Schriftsteller Klaus Schlesinger in den siebziger Jahren in Ostberlin und der ihn in Budapest besuchte.
Doch von seinen einstigen Peinigern hat Dalos den "kalten Verstand" gelernt, den der große Dzerzinsky seinen Jüngern empfahl. Berlins Kultursenator Thomas Flierl sprach in der hitzigen Diskussion in Hohenschönhausen missverständlich vom Dialog mit den "Zeitzeugen". Mit einer gekonnten Mischung aus Einfühlung und Distanz schöpft Dalos seinen Zeitzeugen quasi ab. In Klempners innerem Monolog entfaltet sich das Panorama der DDR-Geschichte von den antifaschistischen Anfängen bis zum Kollaps der Diktatur. Der Leser verfolgt den Lebensweg des Ungarnflüchtlings Klempner, dem Studium und Stasi Auskommen und Aufstieg ermöglichen. Auf diese Weise kann Dalos auch eine Innenwelt ausloten, an die er mit einer "objektiven" Analyse, Akteneinsicht oder der Opferperspektive nur schwer herangekommen wäre.
Vielleicht, denkt man sich am Ende von Klempners verbittertem Rückblick, ruhte die DDR-Herrschaft noch stärker als auf den Spitzen ihrer Bajonette auf dieser kleinbürgerlichen Zwangspsyche aus Systemtreue und Triebkontrolle. "Ich bin nichts weiter als ein treuer Hund der Partei" gesteht Klempner in einem verfänglichen Gespräch am Plattensee seinen als Spion auf ihn angesetzten Mitarbeiter, dem jungen Leutnant Bönicke. Erst durch seine Zufallsbekanntschaft mit der charmanten Joli am Strand geht Klempner, lange Jahre geräuschlos mit einer verdienten sozialistischen Lehrerin verheiratet, aus sich heraus: "Du flirtest wie ein verklemmter Schüler" wundert sich die Ungarin über den Mann von 50 Jahren, der ihr so ungelenk den Hof macht.
Dalos lesenswerte Erzählung artet nirgends in naive Beschönigung aus. Selbst da nicht, wo sie das Schlapphut-Milieu als Tragikkomödie zeichnet. Der Mann kennt sich bestens aus im absurden Theater von Konspiration und Dekonspiration, Spionage und Gegenspionage. Die melancholische Liebe Klaus Schlesingers zu Milieus und Menschen hat Dalos einmal - mit Rückgriff auf die ungarische Literaturgeschichte - als "feenhaften Realismus" bezeichnet. Dalos mit seinem unübertroffen trockenen Humor können wir attestieren, dass er ein in Verruf geratenes Genre zum "ironischen Realismus" geadelt hat. Die extensive Empathie, die er dabei auf Klempners Psyche verwendet, dient nirgends der historischen Entschuldung. Die Entscheidung für dieses Verfahren entspringt einfach der poetologischen Maxime, dass man kennen muss, worüber man spricht. Das gilt vielleicht gerade für die Täter unter uns.
György Dalos: Balaton-Brigade. Rotbuch. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla nach einer Rohübersetzung von György Dalos. Hamburg 2006, 190 S., 19,90 EUR
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