Zurück in unsere Dörfer

LYRIKLINE IN KRANICHSTEIN Die zeitgenössiche junge Lyrik zeigt im Herbst Symptome einer durchmischten Moderne

Gedichte als tägliche Diät." Mit diesem ausgefallenen Rezeptvorschlag wartet der ehemalige SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi im Nachwort einer kürzlich erschienenen, populären Gedichte-Anthologie seiner Frau, der Lyrikerin Ulla Hahn auf. Diät, fragt man sich irritiert? Lyrik als Abmagerungskur, als Appetitblocker? Dass Hahns bildungsbürgerlicher Sammlung ausschließlich deutschen Versguts von Walther von der Vogelweide bis gerade einmal Ingeborg Bachmann die Idee vom Gedicht als Genesungsbalsam gegen den Morbus Civilisationis zugrundeliegt, ahnt man schon bei dem bezeichnenden Untertitel: Gedichte fürs Gedächtnis. Zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen. Hier soll eine ursprüngliche Imaginationskraft instandgesetzt werden. Und Dohnanyi wünscht sich viele junge Leser, "damit früh gepflanzt wird, was dann im Sturm des Informationszeitalters Bestand haben soll". Es mutet immer ein wenig seltsam an, wenn die Apologeten der ökonomischen Globalisierung, in diesem Fall der Walser-Sekundant Dohnanyi, sich ein Refugium der Echtheit gegen die Entwicklungen wünscht, die sie als Wirtschaftskapitäne selbst befördern. Und dass die Begegnung mit der Lyrik keineswegs automatisch den neuen Menschen schafft, lässt sich am Fall Martin Bangemann ablesen. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister und EG-Kommissar, so geht die Sage, pflegte in seiner Bonner Zeit an einem kleinen Kiosk gegenüber dem Bundestag täglich ein Gedichtbändchen zu kaufen. Er endete kläglich als anrüchiger Lobbyist!

Ausgerechnet mit dem Flaggschiff des Informationszeitalters ist die zum Refugium der Echtheit und zur Entschleunigungspille promovierte Substanz nun ein Bündnis eingegangen. Aber ob die auf Initiative der Berliner literaturWERKstatt Mitte November geschaltete Lyrikline, eine monatlich wachsende Anthologie wirklich zeitgenössischer Lyrik im Netz von h.c.artmann über Elke Erb, Adolf Endler, Ursula Krechel, Thomas Kling bis Peter Rühmkorf den Bedeutungsverlust der Literatur im Allgemeinen, der Lyrik im Speziellen aufhalten wird? Ganz neue Rezeptionsebenen haben die Betreiber für die Lyrik damit noch nicht direkt erschlossen. Sie haben höchstens nachträglich zum Stand der Dinge aufgeschlossen. Aber im Gegensatz zum Deutschen Literaturfonds, der seine 16. Kranichsteiner Literaturtage, die er in diesem Jahr zum ersten Mal der Lyrik widmete, vergangenes Wochenende in der klösterlichen Abgeschiedenheit des Jagdschlosses Kranichstein vor den Toren Darmstadts in einem Jägermuseum unter düsteren Ölgemälden und verstaubten Hirschgeweihen plazierte, haben die Lyrikliner immerhin eine zeitgemäße Verbrauchernähe für die Kunst bewiesen. Freilich ließen die bei der Vorstellung benutzten Vokabeln des Globalisierungsdeutsches von Beschleunigung und Synergieeffekten für das Buch, die die Edition bewirken solle, eher vermuten, dass auch hier die Kunst in die Begründungsnotwendigkeiten des ganz gewöhnlichen global marketing hineingerutscht ist. "Die Lyrik lebt, sie ist nicht tot" rief Joachim Sartorius, Lyriker und Generalsekretär des Goethe-Instituts, dennoch bei der Vorstellung des Projektes. Und zumindest in einem Punkt hatte er recht. Denn der Clou des Projektes, dessen erste Auswahl von Elke Erb kuratiert wurde und das sich Berlin und der Bund 1999 zunächst 100.000 DM, im nächsten Jahr doppelt so viel kosten lassen, ist der lebendige Vortrag. Wer Durs Grünbeins im Tonfall des späten Benn gelesenes Gedicht Biologischer Walzer gehört hatte, konnte Lyrik als Sprach-Skulptur im Hör-Raum erleben. Auch wenn die ursprüngliche Idee, die im Archiv der literaturWERKstatt gespeicherten Liveperfomances der Lyrik zu Gehör zu bringen, einer sehr klassischen und kanonisch wirkenden Präsentation gewichen ist.

Ein Workshop macht noch keine Moderne. Misst man aber die durchaus repräsentative Mischung von Gegenwartslyrik, die sich in Darmstadt zeigte, an der historischen Zäsur etwa von 1890/1900, konnte man keinen spektakulären Paradigmenwechsel erkennen. Dabei sind die Zeiten vergleichbar, schaut man auf den Gegensatz zwischen der ökonomisch-technischen Dynamik und der Kultur heute. Doch das Pegel der Selbstbestimmung der Lyrik schlug weder nach der einen, noch nach der anderen Seite aus. "Stadtplanet", "Steinprovinz" klagte zwar der 1962 in Altenburg geborene, nach einer Schlosserlehre am Leipziger Literaturinstitut ausgebildete Tom Pohlmann. Doch nirgends verschaffte sich der Ruf nach einem rigorosen Rückzug der Kunst auf eine kontradiktorische Autonomie noch ungehemmte Fortschrittsbegeisterung Luft, noch gab es gar zukunftsstürmende Manifeste. Bis auf Hans Thills Poetik der Überraschungen (Juror Michael Braun) gab es kaum Experimente. Eher gewann man den Eindruck einer verhaltenen Moderne, die noch immer mit Rückzugsgefechten beschäftigt ist. Und den einer gemischten Moderne, wo sich Positionen aus dem Kulturkampf um 1989 aufzulösen beginnen.

Die "Weltmitte", so der 1960 geborene und heute in Rom lebende Lyriker Jan Koneffke in seinen Erzählgedichten ist das kleinbürgerliche "Neunhundertseelen"-Nest der Kindheit, wo der bei verdächtig vielen Autoren wiederauferstandene Großvater mit dem Stock winkte und ein Priester mit Lederklamotten und Helm sich den "pastorenleib" von jungen Händen melken ließ. "Zurück in unsere Dörfer" intonierte auch der diesjährige Preisträger, der 1963 in Gera geborene Lutz Seiler. Seine Arbeit, eine Mischung aus Naturlyrik und politischer Dichtung, atmet Ton und Geist Peter Huchels, in dessen Haus in Wilhelmshorst er heute lebt. Mit beeindruckender Suggestion und scharfen Schnitten gelingen dem zurückhaltenden und bescheidenen Lyriker ungeheuer einprägsame Bilder einer von großen Ideologien, Militär und Industrie verheerten Ost-Landschaft. die unten,knapp/darunter liegen, saugen/halten/klein/den atem an. Die Perspektive von unten, die Beschäftigung mit der Hinterlassenschaft der DDR und eine existentielle wie politische Jahrhundertskepsis sind unverkennbar. Und Seiler fährt fort: Wir hatten kein Glück.also zerfallen die Häuser/werden wir endlich wieder klein.

Als "Phantom der Unmoderne", einsam aber selbstbewusst sah sich das lyrische Ich in dem Gedicht Pohlmanns, der für seine Arbeiten mit dem New York-Stipendium den zweiten Preis zugesprochen bekam - ein Grenzgänger der Zeiten mit "seiner Verachtung für alle Ideologien". Dass diese historische Zwischenlage sich nun auch ins Bewusstsein der wahrnehmungsresistenten Westmoderne gefressen hat, ist vielleicht der interessanteste "Trend", der sich aus Darmstadt vermelden läßt. "Ich stand vor einer Kirche/aus hohem, aus nördlichem Stein;/zerrissen die Uhr, runterhängende Innerein." heißt es in Dirk Petersdorffs Gedicht "Orientierungsschwierigkeiten, Frankfurt an der Oder". In den kühl-perfekten Texten des 1966 in Kiel geborenen Lyrikers, der bislang noch als einer der Protagonisten der postmodernen Ironiefraktion West im Gefolge Robert Gernhardts galt, machte sich bei zahlreichen Reisen durch Gegenden im Osten ein elegischer, fast klassischer Ton breit, nur noch hie und da von Ironiefloskeln und banalisierenden Alltags- und Theoriesentenzen durchzuckt. Überhaupt beherrschen Mischungsverhältnisse die Szene. Denn umgekehrt fragen aus der DDR stammende Autoren wie Tom Pohlmann immer mehr nach West-Themen wie Wahrnehmung und Medien. Gegen soviel Gemengelage wirkte der zweite der Entzauberer von hohem Ton und tiefem Sinn, der 1968 in Düsseldorf geborene Lyriker Steffen Jacobs, im Hauptberuf Filmkritiker der FAZ, plötzlich wie ein vordergründiger Traditionalist, wenn er in seinem "Leser und Gedicht" schreibt: Warum diese große Strenge,/diese Bitterkeit und Enge/deines Denkens, deines Wesens? Doch meinte man ausgerechnet beim jüngsten Teilnehmer, dem 1972 in Bern geborenen Raphael Urweider, jüngster Träger des Leonce-und Lena-Preises und selbst durchaus Vertreter einer "objektiveren" Dichtung, durchzuhören, dass er des ständigen Lamentos: "Stop making sense" langsam müde sei. An Seilers fragmentarischer, schwerer Sprache war Jacobs alles "unerklärlich". War es Futterneid oder nur programmatisch, als er auf dessen melancholische Lyrik, die demnächst in einem großen Frankfurter Verlag erscheint, allergisch reagierte: "Das ist das unselige Wirken der Suhrkamp-Kultur, das uns die Autoren verdirbt."

Gibt es eine "neue Unverzichtbarkeit"(Jörg Drews) der Lyrik?" Ist Lyrik ein Antidot gegen die Verwüstungen der Virtualität? Glaubt man Joachim Sartorius, wächst das Bedürfnis nach "kurzen, hochemotionalisierten, hochrhythmisierten Sätzen". Sinnlichkeit und Stofflichkeit des Gedichts müssen allerdings nicht einen Rückfall in die Missverständnisse von Poesie als kostbarer Empfindungslyrik bedeuten, von denen in Darmstadt Sabine Schiffner mit ihren Versen vom "späten november" eine Kostprobe gab, wo "blätter hängen an schwarzen zweigen" und ihr lyrisches Ich sich "die finger schon rot gebissen" hat. Die "unberufene Schreibpraxis" (Hermann Korte) des ausgehenden Jahrhunderts geht an Sinnlichkeit nur anders heran. "Ich sehe die Möglichkeit des Autors nicht im Subjektiven" sagte dagegen schweizerisch bedächtig Raphael Urweider. Seine häufig seriell, in Zweier- und Dreierversreihen gestalteten Gedichte aus der Technikgeschichte von den Gebrüdern Lumiere bis zu dem Erfinder des Gummireifens, John Dunlop, sind zwar ein weiteres Beispiel für die Okkupation eines nicht kleinen Teils der allerjüngsten Lyrikergeneration mit Naturwissenschaft und ihre Lust am präzisen Handwerk. Nicht umsonst wollte er seinen ersten Gedichtband, der im nächsten Frühjahr erscheint, Manufakturen nennen. Doch seine Gedichte sind nur scheinbar sachlich-nüchterne Handarbeit. Denn die Geschichte des Automobilfabrikanten Henry Ford, der eines Mittags aus einer seiner Faktoreien flieht, in denen "die motorisierten Modelle in alle Richtungen ziehen", ist auch eine sehr traurige Szene. auch hier also Mischungsverhältnisse: eine durch die Form gesicherte Objektivität, die die versteckte Subjektivität glaubwürdiger macht. Und seine Zeile vom "jähen licht in menlopark", ein Gedicht über den ersten künstlich hergestellten Blitz, der "einen Augenblick lang...nur" sichtbar ist, kann man als Metapher nehmen. Gedichte sind die schlagartige Erhellung eines Sachverhaltes, Produkte jener Sehnsucht nach der "Helligkeit der Implosion", von der auch Steffen Jacobs sprach. Dabei wird der Lichtschalter Lyrik natürlich auch weiterhin Licht auf Räume und Schlüsselmotive der subjektiven Erinnerung wie das Strickzeug der Muhme und Tütensuppen werfen. In den Gedichten Norbert Hummelts sind Prousts erinnerungsauslösende Madeleins die Süßigkeit Treets, wo "der schwall der stimmen" aufscheint, wenn "durch Zungenspiel der schokoladenmantel um die erdnuß schmolz".

Lyrik als sinnliche Rückversicherung birgt die Gefahr von Verkultung und anachronistischen Authentizitätsfetischismus. Und die Lyrik wird als Sinnlichkeitsgenerator mit vielen anderen Produkten des Informationszeitalters konkurrieren müssen. Das bringt auch Vorteile mit sich. "I wanted to say, that I'm full of admiration for your work" flötete ein/e unsichtbare TeilnehmerIn aus Budapest beim live-chat der lyrikline mit europäischen Hauptstädten drahtlos Raphael Urweider nach Berlin-Pankow. Und man kann den AutorInnen auch ein emailchen schicken. Doch das Rauschen noch der massenhaftesten Vernetzung wird nicht übertönen können, dass im Gedicht das Vereinzelte am schärfsten zum Ausdruck kommt. Der italienische Lyriker und Literatur-Nobelpreisträger von 1959, Salvatore Quasimodo, schrieb: Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde/getroffen von einem Sonnenstrahl:/und schon ist es Abend.

www.lyrikline.de

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