Zwölfeinhalb Kilometer Zaun. Anfang Juni wird man das friedliche Seebad Heiligendamm an der Ostsee vermutlich nicht wiedererkennen. Dann nämlich, wenn sich die Staatschefs der G8-Länder in der Provinzidylle versammeln, um über die Agenda einer aus den Fugen geratenen Welt zu beraten: Weltwirtschaft, Afrika, Klimaschutz. Wie immer bei solchen Gipfeln fernab von einer allzu streitbaren Öffentlichkeit. Umgeben von einem temporären Zaun, zweieinhalb Meter hoch. Geschätzte Gesamtkosten des Gipfels: 90 bis 150 Millionen Euro. Allein der Zaun wird zwölfeinhalb Millionen kosten. Heiligendamm, ein Hochsicherheitstrakt für zwei Tage.
So ein Komplex regt die Phantasie an. Kein Wunder, dass die Grenze im Mittelpunkt von Arbeiten steht, mit denen Künstler aus aller Welt auf diese außergewöhnliche Situation reagieren wollen. "Art goes Heiligendamm. Art goes Public" nennt sich ein Projekt, das parallel zu dem Politgipfel vom 24. Mai bis zum 9. Juni im benachbarten Rostock steigen soll. Während in der Bundeshauptstadt nach dem Eklat um die Sammlung Marx an dem "Museum der Gegenwart" nur genannten Hamburger Bahnhof noch über einen Platz für die Gegenwartskunst gestritten wird, hat die sich längst aus dem Staub gemacht. Sie will an die Ostsee - die Gegenwart aufmischen. Im Juni wird man also nicht nur zur Documenta nach Kassel, zur Biennale nach Venedig, zur Kunstmesse nach Basel und zum Skulpturen-Projekt nach Münster pilgern müssen, um Kunst zu erleben, sondern schon vorher nach - Rostock!
Mit dem Schlachtruf "Kunst ist doch nicht die Schweiz" nährte zwar einer der Initiatoren, der "darstellende Architekt" Benjamin Foerster-Baldenius vergangene Woche in Berlin Befürchtungen, hinter dem schillernden Projekt könnten sich doch nur wieder die üblichen Aporien "politisch engagierter Kunst" verbergen. Und von Migrationsarchiven über Asylcontainer bis zur Kriegsfotografie finden sich denn auch die Standards aus dem Arsenal der dokumentarischen Politkunst, die sich spätestens seit der documentaX von 1997 in der Kunstwelt ausgebreitet hat im Rostocker Angebot. Doch Betroffenheit, Anklage und ästhetikfreie Agitation zeichnen die "künstlerischen Interventionen", die die Kuratorin des ambitionierten Projekts, die ehemalige Berliner Kultursenatorin Adrienne Goehler jetzt in Berlin präsentierte, im Großen und ganzen nicht aus. Eher atmeten sie subtile Ironie und den Geist des intelligenten Spiels.
So will die deutsche Künstlerin Francis Zeischegg das zu erwartende Gipfelsetting mit einem "Raumzitat aus der Forstwirtschaft" konterkarieren: Wildgatter nennt sie ihr Video. Darin sieht man ein kleines Holztreppchen, das an einen Drahtzaun gelehnt ist. Mit diesem Überstieg kann der Förster in jedes Gehege gelangen. Man kann sich die Bedeutung der Arbeit aussuchen. Soll das Werk die Demonstranten des politischen Gegengipfels, die sich in Heiligendamm sammeln, animieren, in ein verbotenes Terrain einzudringen? Oder werden die Staatschefs das Angebot zum Ausbruch aus dem Gefängnis der Sachzwänge nutzen? In Rostock will die Künstlerin einen mobilen Hochstand installieren. Dann können sich beide Seiten zumindst erst einmal gegenseitig beobachten.
Mit solch klassischer Kunst will sich das Projekt aber nicht begnügen. Über der Stadt soll das ganze Füllhorn des erweiterten Kunstbegriffs ausgeschüttet werden: Tanz, Theater, Performance und jede Menge innovativer Happenings, gewaltfreier HipHop inklusive. Auf Litfaßsäulen soll die Bevölkerung ihre Ideen zu den Gipfelproblemen darlegen können. Der Künstler Christian von Borries will die Stimmen der acht Gipfelteilnehmer zu einer "Gipfelmusik" zusammen schneiden, um die Kommunikationsprobleme solcher Treffen zu versinnbildlichen. Das Ergebnis soll man dann als CD bei Attac herunter laden können.
Kein Gipfel ohne televisionären Overkill. Deswegen plant die Gruppe "Kein.TV" eine Parodie auf die Medienhysterie dieser Events. Die Liste der Redner einer "Lecture"-Reihe reicht vom Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler bis zur Trägerin des Friedensnobelpreises 2004, Wangari Matthai aus Kenia. Stattfinden soll das Ganze in einem "Silverpearl Congress Center Spa", das Foerster-Baldenius´ Architektengruppe "raumlabor" im Hafen von Rostock bauen will. Bekannt geworden war der um eine satirische Bemerkung selten verlegene Gelegenheitsarchitekt schon durch den "Bergkristall" beim Berliner Volkspalast. Mit der gipfelsimulierenden Installation hatte er im Sommer 2005 den inzwischen fast abgetragenen Palast der Republik in eine meditative Kletterbude für die ganze Familie verwandelt. In Rostock gibt´s nun also eine Silberperle.
Goehlers Begründung, dass es nötig sein, der Kunst einen "erweiterten gesellschaftlichen Resonanzraum" zu verschaffen, kann man getrost vergessen. Noch nie seit Menschengedenken wurde der Globus von einer solchen Lawine von Biennalen und Großausstellungen erschlagen wie jetzt. Die Kunst kümmert mitnichten in der Nische des White Cube. Heutzutage wird schließlich jede U-Bahn-Station zum Schauplatz "ortsspezifischer Interventionen", auf der man schon am frühen Morgen von "Wahrnehmungserweiterungen" überfallen wird. Das macht das Projekt in Rostock aber nicht überflüssig. Nur hängt es nicht ganz so hoch, wie die Organisatoren es gern sähen. Und auch, wenn es eher einem fröhlichen Zeltlager der Künste zu gleichen scheint. Es wird teuer. Und just an einem dünnen pekuniären Faden hängt derzeit das Schicksal dieser zivilgesellschaftlichen Initiative.
Zwar konnte die gut vernetzte Goehler eine stattliche Reihe von Sponsoren und Förderern zusammenschieben. Sie reicht von der Hansestadt Rostock über die Heinrich-Böll-Stiftung, von den Berliner Kunstwerken bis zu Privatleuten wie dem Berliner Malerstar Daniel Richter. Und die ehemalige Präsidentin der Hamburger Hochschule für bildende Künste schnorrte ihre betuchten Bürgerfreunde an der Elbe dermaßen an, dass sie sich fast nicht mehr in die Stadt traut. Die letzte Viertelmillion, die ihr zum Kunstglück fehlten, hatte die gremienerfahrene ehemalige Kuratorin des Berliner Hauptstadtkulturfonds dann schließlich fristgerecht bei der Bundeskulturstiftung beantragt. Vergebens, wie sich dieser Tage herausstellte.
Die bürokratisch gewundene Formel, mit der die in Halle angesiedelte Einrichtung den Projektantrag ablehnte, hat es in sich. Einerseits hält sich die etwas auf ihre unkonventionelle Ausrichtung zu Gute. Im Zweifel für die Avantgarde, für das Experiment, für das Crossover - das war bislang das Motto der von der selbstbewussten Hortensia Völckers geleiteten Förderinstitution. Und mit "Schrumpfende Städte" oder ihrem "Projekt Migration" hat sie sich an Kontexte gewagt, die alles andere als unpolitisch sind. Die politisch brisante Zusammenkunft der wichtigsten Staatenlenker der "freien Welt" an der Ostsee sprengt dann aber doch den üblichen Kunstrahmen.
Es riecht ein bisschen nach Kotau vor der Politik, wenn sich die Stiftung jetzt darauf herausredet, dass die "übergeordnete politische Bedeutung" des Projekts "angesichts der Gastgeberrolle der Bundesrepublik" eine besondere Begutachtung durch den (politisch besetzten) Stiftungsrat notwendig mache. So schnell, argwöhnt Goehler, ist bislang noch kein Förderantrag der Stiftung auf Eis gelegt worden. Doch die gewitzte Kuratorin gibt nicht auf. Ersatzweise will sie jetzt Projektgelder den "Kunst am Bau" beantragen. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee wird sich etwas einfallen lassen müssen, wenn er widerlegen will, was offenkundig ist: dass nämlich der Zaun um Heiligendamm eine Baumaßnahme ist, die "Gegenstand besonderer öffentlicher Wahrnehmung" sein wird. Das jedenfalls ist die gesetzliche Bedingung für "Kunst am Bau".
Trotzdem ist die Ablehnung von "Art goes Heiligendamm" einigermaßen verwunderlich. Denn Goehler geht es bei dem bunten Projekt nicht um politische Konfrontation. Sie will, wie sie selber sagt, "vermitteln" und "deeskalieren". Alles Anliegen, denen die Bundesregierung angesichts der politischen Anti-G8-Truppe, die sich in und um Heiligendamm auch formiert, eher gelegen sein könnte. Goehlers Idee, eine "Pufferzone jenseits der dualen Logik von Gipfel und Gipfelgegnern" zu schaffen, ein Raum, in dem über die wirklichen Weltprobleme nachgedacht werden könne, klingt nach gehobenem Stadtteil-Konfliktmanagement. Fast möchte man die Kunst vor diesem lebensgefährlichen Rot-Kreuz-Einsatz zwischen den Fronten in Schutz nehmen. Verdächtig schwammig wird Goehler da, wo sich die sonst gern unbotmäßige Intellektuelle der Großveranstaltung als das (fehlende) Kulturprogramm andient, als eine Art Fortsetzung des Programms Zu Gast bei Freunden, das 2006 dieFußballweltmeisterschaft flankierte. Die Kunst als Harmonisierer und Nothelfer der offiziösen Kommunikationsdefizite?
Wer Goehlers letztes Buch gelesen hat, kann dieser Ansatz nicht überraschen. Schon in der semivisionären Skizze Wege und Umwege vom Sozialstaat zum Kulturgesellschaft (Freitag 23/2006) verfocht sie die Idee von den "Verflüssigungen" zwischen sozialen Bewegungen und Kunst. Ihre Unterstützer sehen das ähnlich. "Wie könnte der Potsdamer Platz heute aussehen, wenn man die Künstler früher beteiligt hätte?", fragt nicht ganz zu Unrecht Daniel Marzona. Seines Vaters Sammlung von Objekten der Minimal-Art erwarb Berlin 2002 für den Hamburger Bahnhof. Die Familie unterstützt nun "Art goes Heiligendamm" finanziell. Der bei der Bundeskulturstiftung beantragte Betrag von 250.000 Euro macht nur einen Teil des fast doppelt so teuren Projekts aus. Und natürlich wären die Steuergroschen, die den Kosten von rund 250 Metern Gipfel-Zaun entsprechen, in Kunst sicher besser angelegt, als in Stacheldraht und Infrarotkameras. Trotzdem wundert man sich, dass die Initiative so beharrlich nach öffentlicher Förderung strebt. Könnte sie, bar aller Staatsknete, nicht viel freier aufzeigen, was man von der Kunst eigentlich erwartet - radikale Alternativen?
www.art-goes-heiligendamm.net
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