Als noch vor ein paar Wochen die Tschetschenen behaupteten, dass Russ land sie als Volk auszurotten plane, klang dies für westliche Ohren wie ein kaukasischer Mythos. Die Sprache der russischen Regierung, die sich solcher Begriffe wie "Terroristenbekämpfung" bediente, wurde dafür ernst genommen, in der bequemen Annahme, dass Boris Jelzin und Wladimir Putin "demokratische" Politiker seien und als solche zurechnungsfähig. Je entfesselter jedoch die russische Staatsgewalt im Nordkaukasus wütet, um so stärker spricht sie für sich. Die Tschetschenen müssen das Beweismaterial des Völkermordes nicht mehr kommentieren. Und die Lügen über die "vornehme Aufgabe Russlands" (Jelzin) kriechen angeschlagen unter den Bildern der Verwüstung. Wenn ein Boxer ein Kind zu Tode prügelt und sich rechtfertigt, dass dieses die Hausordnung störte, ist die Sprache seiner Tat stärker als das Wort. Der Europarat springt nicht in den Ring, um den Kleinen vor dem Tod zu bewahren, sondern bittet den Boxer, dem Sterbenden doch ein Glas Wasser zu gönnen. Dass der Europarat Russland nicht verurteilt, sondern nur humanitäre Hilfe für die Vertriebenen fordert, ist ein Hohn der Menschlichkeit und zeugt von einer Sprache der Angst. Mit jedem Tag der Feigheit seitens der Politiker und der internationalen Organisationen wird die Frage realer, ob das tschetschenische Volk diesen Winter überlebt.
Es ist wohl kein Zufall, dass der Vorsitzende der Tschetschenienkommission beim Europarat immer noch der Schweizer Ernst Mühlemann ist, der eine devote Haltung gegenüber dem Kreml an den Tag legt. Im letzten Krieg besuchte er Tschetschenien nur schnell im Schutz des russischen Militärhubschraubers und ließ sich die Sorgen der tschetschenischen Kriegswitwen von russischen Offizieren dolmetschen. Diesmal fährt er nach eigener Aussage überhaupt nicht hin, denn der ehemalige Bankdirektor und passionierte Militär fürchtet, entführt zu werden, während das Volk, um das er besorgt sein sollte, als Ganzes entführt wird. Mühlemanns Hauptsorge ist nämlich, dass - falls er eine Rüge wagen sollte - sich vor ihm die Kremlmauern verschliessen könnten, und das wäre dem Frieden abträglich. Bei seinen Moskauer Besuchen ist er darauf bedacht, zu unregelmässigen Zeiten verschiedene Hotelausgänge zu benutzen, damit ihn jene Russen, die er so schont, nicht ermorden mögen. Eine groteske Haltung, die ein Abbild der großen Politik im Kleinen ist.
Angenommen, die große Politik wäre konsequent und moralisch, dann müsste man den Präsidenten und Premier einer Großmacht zu Kriegsverbrechern erklären und sie auch so behandeln. Das würde natürlich das politische Weltbild verändern. Man müsste sich eingestehen, dass Russland überhaupt nicht auf den Weg zur Demokratisierung, sondern zu einer neuen Diktatur ist. Statt die eigene Mafia in die Schranken zu weisen, wird das Ein-Millionen-Volk der Tschtschenen als Projektionsfläche für das Verbrechertum schlechthin auserkoren, und die russische Bevölkerung befürwortet geradezu einstimmig (die Intelligenzija inbegriffen) den Krieg.
Wladimir Putin, ein farbloser, depressiv wirkender ehemaliger Geheimdienstchef ist dank den von ihm verordneten Metzeleien an der Zivilbevölkerung innerhalb von drei Kriegsmonaten zur charismatischen Figur aufgestiegen. Es geht dabei nur nebenbei um die Tschetschenen, die während eines 150 Jahre dauernden Versuchs der Unterjochung zum vierten Mal einem Genozid ausgesetzt sind, das diesmal erfolgversprechend zu sein scheint. Der Hund ist in Russland begraben. Und er wird zugeschüttet und zugeschüttet, mit fremden und eigenen Leichen. Je schlechter es Russland geht, um so selbst- und fremdzerstörerischer wird es. In der Nacht vom 5. zum 6. Dezember hatte die befürchtete dritte Phase der Vernichtung begonnen, das eingekesselte Grosny wird nach Angaben von Präsident Maschadow mit chemischen Waffen eingedeckt. Bei den Menschen treten Verbrennungen, eiternde Blasen, Apathie auf - das Sterben setzt ein.
Mit jeder Bombe wächst Putin zum Retter der imperialen Größe heran. Die russischen Medien verbreiten neuerdings die Nachricht, dass die tschetschenischen Freischärler Ammoniak, Chlor und andere Gifte in Grosnys Boden vergraben. Nach der altsowjetischen Leseart deutet dies darauf hin, dass Russland in der Tat chemische Waffen einsetzt und die ökologische Katastrophe den Tschetschenen anlastet. Das entvölkerte Land könnte dann zu einer Militärbasis für weitere Expansionszüge werden, zunächst einmal nach Georgien.
Vor ein paar Tagen rief mich meine tschetschenische Freundin Lipchan an und erzählte, dass sogar Krähen und Hunde die umkämpfte Siedlung Urus Martan verlassen hätten. Sie sprach in zerfetzten Sätzen von zerfetzten Menschen, über die sie rannte, als die russischen Militärs viele Wagen mit Flüchtlingen in eine Falle neben der Siedlung Otschchoj Martan gelockt und sie am 29. Oktober mit Raketen beschossen hätten. Auch ihr Wagen wurde getroffen, sie blieb jedoch unverletzt. Schon im letzten Krieg wurde ihr Haus niedergebrannt, zwei Brüder wurden getötet. Nun ist auch das neue Haus in Grosny zerstört. Es gelang ihr, nach Kabardino-Balkarien zu fliehen, doch da wollte sie nur noch sterben. Ich erzählte ihr, dass in hiesigen Medien Empörung über die Behandlung der Zivilbevölkerung laut wird, und sie meinte, das gebe ihr Kraft, ja, man dürfe dem Todestrieb nicht nachgeben, sie werde mit anderen Flüchtlingsfrauen eine kleine Landwirtschaft aufbauen. Die Philologin wünscht sich nichts sehnlicher als eine Kuh, ihre Wärme und ihre Milch. Eine für die Kriegstreiber subversive Tat. Eine Kuh bedeutet Kontinuität, und die soll es nicht geben. Auf Anordnung des russischen Innenministers wurden am 29. November die tschetschenischen Flüchtlinge aus Kabardino-Balkarien nach Igutschetien deportiert.
Irena Brezná war Kriegsberichterstatterin im letzten russisch-tschetschenischen Krieg. Sie lebt in Basel. Ihr Sammelband von Kriegsreportagen aus Tschetschenien, Die Wölfinnen von Sernowodsk, Quell Verlag, 1977, kann jetzt über Ithaka Verlag, Stuttgart, bezogen werden.
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