Man zieht mir die Haut ab

Trauma Swetlana geriet in die Fänge von Frauenhändlern, sie wurde vergewaltigt und gefoltert. Sie lebt, aber ihre Psyche versucht zu vollenden, was die Täter nicht schafften

Warum ich? Diese Frage verfolgt Swetlana* seit sie in einem Raum mit vergitterten Fenstern aus der Ohnmacht erwachte. Sie erinnerte sich, dass ihr jemand von hinten einen Schlag versetzt hatte. Alles war nach einem kitschigen Szenario verlaufen: Eine Discobekanntschaft, Serjoscha*, versprach dem Provinzmädchen eine gut bezahlte Arbeit und brachte sie in ein einsames Haus ausserhalb von St. Petersburg. Ein Mann fragte sie: Willst du hier als Prostituierte arbeiten? Das habe ich nicht vor, antwortete sie selbstbewusst. Das war das letzte Mal, dass wir dich etwas gefragt haben, sagte der Mann. Dann kam der Schlag.

Als Kind wollte Swetlana Richterin werden, sie fand es edel, Verbrecher ins Gefängnis zu befördern, doch dann brach sie frühzeitig die Schule ab. Die Mutter war Köchin in einer Schulkantine. Sie hatten es gut zusammen, nachdem der Vater ausgezogen war. Swetlana war damals vier Jahre alt.

Männer waren in ihrem sibirischen Dorf zu nichts zu gebrauchen. Die Wodkaflasche ersetzte den Schoppen, und mit dem Bartwuchs kam die Einberufung in die Armee. Danach wanderten sie wegen Diebstählen und Schlägereien ins Gefängnis und starben frühzeitig. An ihren Vater hat Swetlana eine einzige Erinnerung – wie er betrunken ist und die Mutter schlägt. Einige Jungs hielten sich stramm, blähten den Brustkasten und ihre Geldbörse auf, sie nannten sich biznismeny und kommerssanty. Die Mutter warnte Swetlana: Lass dich ja nicht mit der Mafia ein. Vom Mann ging entweder eine Bedrohung aus oder er war ein bemitleidendswertes Geschöpf, das die Frauen auf den Gehsteigen einsammelten und widerwillig aufpäppelten. Mit Dreiundzwanzig beschloss Swetlana, nach St. Petersburg zu gehen. Ungern ließ die Mutter ihr einziges Kind ziehen. Swetotschka, pass bloß auf dich auf. Der Snackbarbesitzer versprach, Swetlana ordentlich zu bezahlen und auf sie achtzugeben. Und Swetotschka versprach, der Mutter Geld zu schicken.

Sie hat sich selbst verlassen

Warum sind Sie zu uns geflüchtet?, fragt die Psychiaterin in einer Notfallaufnahmestation in Amsterdam. – Ich war Sklavin, zehn Monate lang. Swetlana erzählt ihre Geschichte in kurzen, klaren Sätzen, wofür ihr die Dolmetscherin dankbar ist. Die Psychiaterin erkennt ein schweres Trauma an der Art, wie die junge Frau den Körper trägt – als wäre er ein fremdes Kleid. Die Seele hat sich irgendwann vom Körper verabschiedet, von diesem willenlosen Partner, der sie verraten hatte. Der Körper wurde geopfert, um die Seele zu retten. Jetzt finden sie nicht mehr zusammen. Wenn Swetlana ihren Körper wahrnimmt, dann nur als Schmerz, immerhin das. Der Nacken tut ihr weh, und sie zeigt, wie sie den Kopf nicht drehen kann. Der Blick geradeaus, als hätte sie Scheuklappen an. Eine lebensnotwendige verengte Sicht, energiesparend.

Im Flüchtlingsheim mag man die Russin nicht. Nachts schreit sie, und wenn man es ihr vorwirft, weiß sie nichts davon. Sie zankt sich mit allen, beschwert sich über Kinder, die auf Dreirädern im Gang auf und ab fahren, sie will es ruhig haben wie eine alte Frau. Sie teilt sich das Zimmer mit sieben Afrikanerinnen, die Koransuren murmeln, das empfindet die Orthodoxe als eine Zumutung. Swetlana wirkt überheblich, das ist Schutz, sie kann wenig Neues aufnehmen, übervoll ist sie von dem, was war. So viele Nationen, laute Stimmen, sie schreit die Heimleiterin an, verlangt ein eigenes Zimmer: Ich habe Schlimmes erlebt. Man lacht sie aus: Wer hat hier nicht Schlimmes erlebt?

Sehen Sie Bildfetzen des Erlebten?, fragt die Psychiaterin nach flashbacks, die typisch für ein posttraumatisches Stress-Syndrom sind. Nein, Swetlana hat keine flashbacks. Dafür hört sie Stimmen, die sie beim Namen rufen. Sie dreht sich um, aber dort ist niemand. Und gestern ging sie auf der Straße ohne zu bemerken, dass sie ging. Sie hat sich selbst verlassen. Sie wundert sich darüber. – Sehen Sie hier die Männer aus Ihrem Verlies? – Nein, aber manchmal sehe ich Gestalten auf der Straße, die sich gleich auflösen. Und eine enorme Kraft drückt mich von hinten zu Boden. Die Psychiaterin will erfahren, ob die Patientin nur Ohnmacht erlebt hat oder auch Selbstbestimmung. Davon hängt ab, wie gut ihre Therapiechancen sind. – Haben Sie sich gewehrt? – Wie? Das Zimmer war klein. Ich war immer darin gefangen. – Konnten Sie es manchmal verlassen? – Zum Duschen, und drei Mal wurde ich in einen Saal hinuntergeführt. Die Männer wollten ihren Spaß haben. Swetlana sagt „Spaß“ mit einer metallenen Stimme und wahrt ihren maskenhaften Gesichtsausdruck. Wer waren diese Männer? – Leibwächter und Politiker einer großen Partei, die einen Teil ihrer Einnahmen mit Frauenhandel verdient. – Hatten Sie Kontakt zu anderen Frauen? – Ich sah dort keine Frau. Nur Männer.

Swetlana spricht vom Mann wie von einer anderen Art, als gebe es keine Verbindung zwischen den Geschlechtern. Und es gibt sie nicht. Sowohl im russischen Militär, in der Polizei wie auch in der Unterwelt und im Männergefängnis ist die Frau als eigenständiges Wesen inexistent. Der weibliche Mensch ist nur die geheiligte Mutter, die sich bis zur Selbstaufgabe für den Sohn aufopfert und dann gibt es die prostitutka, das einzige Wort für die Frau – und beide sind abhängig vom Mann. Der russische Frauenhändler ist ein Produkt des archaischen patriarchalen Denkens, das sich sowohl in den staatlichen Strukturen wie auch in der kriminellen Welt hält, und beide Sphären durchdringen sich. Nach diesem Verständnis ist das Opfer selbst schuld an seiner Lage. Kaum wurde Swetlana prostitutka genannt, schon verlor sie ihr Menschsein. Je mehr Männer sie missbrauchten, umso schuldiger wurde sie an ihrer Hurenrolle. So funktioniert die Abwehr der Scham. Nicht der Täter schämt sich, denn prostitutka ist unwert, böse, ein Ding, sie erinnert den Mann an sein von ihr abhängiges Triebleben. Den Ausweis hat man Swetlana gleich weggenommen, denn hätte sie einen, wäre sie ein Mensch. Als sie nach dem Grund fragte, wurde sie aufgeklärt: Du wirst ihn nie mehr brauchen, wir erledigen dich bald.

Das Handwerk der Folter verlernt man nicht

Doch Swetlana hatte einen zähen Überlebenswillen. Die erste Flucht gelang ihr nach zwei Monaten. Sie ging zur Polizei und sagte aus. Hat sie nicht als Jugendliche ein Praktikum bei der Polizei gemacht und glaubte sie nicht an den Helden-Kommissar, der Schurken aufspürt und bestraft? Doch die St. Petersburger Polizisten sperrten sie ohne Anklage wochenlang ein. Als die Zellentür dann aufging, holten sie dieselben Männer wieder ab, und die Polizisten kassierten für die Warenübergabe. Es folgten weitere Monate im einsamen Vorortshaus. Sie wurde geschlagen, auf die Beine und auf die Nieren. Der übrige Körper sollte ohne blaue Flecken sein. Zur Ausbildung der russischen Soldaten und der Polizeikräfte gehört das gezielte Schlagen auf die Nieren. In den zwei russisch-tschetschenischen Kriegen haben die russischen Folterer diese Praxis angewandt. Die Leibwächter in Russland rekrutieren sich aus den zahlreichen Tschetschenien-Veteranen. So ein Handwerk verlernt man nicht.

Seit Swetlanas zweiter Flucht sind drei Monate vergangen, die blauen Flecken von den Beinen sind verschwunden, aber die Nieren schmerzen noch immer. – Wie konnten Sie entfliehen? fragt die Psychiaterin, um das Kraftpotential der Patientin einzuschätzen. Aber Swetlana erzählt keine spektakuläre Geschichte des Aufbäumens. Die Ware Swetlana sollte ins Ausland verkauft werden, sie bekam neue Reizwäsche, wurde in ein Hotel gebracht und von dort floh sie. Es gab einen Mann in ihrem Leben, der ihre Freiheit achtete. Der Snackbarbesitzer organisierte und bezahlte den Schmuggel. Swetlana saß hinter der Fahrerkabine eines Lastwagens, dort war eine zweite Wand. Der Fahrer hielt ab und zu im Wald an, sie kümmerte sich um ihre Hygiene und aß etwas, dann fuhren sie weiter. In Amsterdam angekommen, sagte er: Schau selbst, wie du zurecht kommst. Sie fragte zwei Polizisten, wo sie um Asyl nachsuchen könnte. Sie sagten, es sei zu spät, sie müsse bis zum nächsten Morgen warten. So verbrachte sie die erste Nacht sitzend auf einer Bahnhofsbank.

Ich habe Alpträume, in denen man mich verfolgt, sagt Swetlana. Man zieht mir die Haut ab, zerstückelt mich. Aber das Schlimmste ist der Lärm, dann habe ich einen unerträglichen Stimmenwirrwarr im Kopf und will aus dem Fenster springen.

Beim Polizeiverhör in Amsterdam war eine Vertreterin der Frauenorganisation, die Opfern des Sexhandels hilft. Sie gab Swetlana die Hoffnung, ihr Asylantrag würde positiv beurteilt werden. Die Welt, in der Swetlana Sklavin war, kennt keine Befreiung. Schon besuchten zwei Männer ihre Mutter, sie gaben sich als Swetlanas Freunde aus und fragten, wo sie sei. Die Telefonverbindung mit der Mutter ist Swetlanas einziger Draht zur Heimat. Sie weiß, wie bedroht ihre Freiheit ist. Sie ahnt aber nicht, wie brüchig ihre psychische Verfassung ist. Die Psychiaterin geht hinaus, kommt zurück, ordnet die Gegenstände auf dem Tisch, steht wieder auf. Sie schützt sich hinter ihrer Geschäftigkeit. Dann sagt sie zur Dolmetscherin: Das ist ein schwerer Fall. Ich werde ihn abgeben. Es ist zu belastend für mich.

Auch die Dolmetscherin erträgt die depressive Stimmung nicht und sagt zu Swetlana: Versuchen Sie im Jetzt zu leben und diese Momente zu vergrößern. – Ich gehe öfters in den Park, aber ich kann mich an nichts erfreuen. – Sie sind wie ein Frontsoldat, der vom Krieg zurückgekommen ist, Sie leben noch im Krieg, aber später werden Sie es überwunden haben und anderen Frauen helfen. – Ich und helfen? Jetzt tut mir der Nacken wieder weh. Die Dolmetscherin will Swetlana aus ihrer Selbstbezogenheit herausführen und sieht ein, wie schwierig es ist. Gerne würde sie die junge Frau in die Arme nehmen, doch sie fürchtet jene zu belästigen, die so viel zwangsberührt worden ist. Und sie möchte vor ihr fliehen. Vor ihrer Geschichte. Sie entscheidet sich zu einem Kompromiss und drückt Swetlana sanft den Ellbogen.

Swetlana ist eine „Überlebende der sexualisierten Gewalt“. Dieser Begriff kommt aus dem amerikanischen Diskurs über die Holocaustüberlebenden. Den Opfern soll die Kraft gegeben werden, die Opferrolle zu verlassen. Swetlana hat zwar überlebt, aber die Selbstmordgedanken versuchen, das zu vollenden, was die Täter nicht zu Wege brachten. Swetlana achtet peinlichst auf ihr Äußeres – sie ist modisch und sauber gekleidet, die Fingernägel glänzen rosa, das Haar ist gepflegt. Aber das ist nicht nur der von den Ausbeutern aufgezwungene Schönheitskult. Es gibt ihr täglich Halt.

Swetlana wurde auf den Körper reduziert, ihm entfremdet, und um ihre weibliche Identität zurückzugewinnen, packt sie den geschundenen Körper schön ein, streichelt ihn mit der Schminke – so rettet sie ihre Selbstachtung.

* Die Namen wurden geändert.

Irena Brezna stammt aus der Slowakei und lebt in der Schweiz. Für eine Tschetschenien-Reportage im Freitag erhielt sie 2002 den Theodor Wolff-Preis. Im Herbst 2008 erschien von ihr Die beste aller Welten bei edition ebersbach

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