Große Menschenansammlungen sind in meinem Freundeskreis verpönt. Die Vorstellung, sich stundenlang in einem Hallenstadion mit bis zu 10.000 anderen menschlichen Wesen aufzuhalten, hat etliche Individualisten davon abgehalten, den Dalai Lama, was auf Tibetisch "Ozean des Wissens" bedeutet, persönlich zu erleben. Die Schweizer Presse hat auch dazu beigetragen, indem sie das geistige und weltliche Oberhaupt der Tibeter zum Popstar erklärte. Doch diese Masse war gar keine. Sie setzte sich zusammen aus disziplinierten, freundlichen Einzelmenschen, die sich in den lichten Gängen in Schweizer Dialekten und in den großen westeuropäischen Sprachen unterhielten und während der Unterweisungen Seiner Heiligkeit in entsprechenden Schriften blätterten oder regungslos lauschten. Auffallend waren die aus Himalaja-Dokumentarfilmen bekannten wind- und sonnengezeichneten Gesichter der Tibeter, deren schlanke Töchter in langen Röcken und deren Söhne mit modischen Frisuren untereinander in Schweizerdeutsch tuschelten. Die Schweiz hat mit über 2.000 Tibetern die größte Exilgemeinde in Europa. Vor dem Podium saßen buddhistische Mönche und Nonnen mit kahlen Köpfen und groben rot-gelben Gewändern auf roten Kissen, viele von ihnen europäischer Abstammung. Und auf dem Boden des Podiums saß der ausschließlich männliche Hof, den der Dalai Lama aus seinem indischen Exil mitgebracht hatte - alte und junge Mönche mit ihren gleichmütigen Gesichtern.
Seine Heiligkeit zeigte seine menschliche und bäuerliche Natur, indem er hustete, sich schnäuzte, am Ohr kratzte, gestikulierte, lachte, von rechts nach links wackelte, gar nicht genug vom Reden kriegte, die vorgegebene Zeit notorisch überschritt und seinen Dolmetschern gegenüber kein Mitgefühl zeigte. Er saß barfuß auf einem glänzenden Thron und sprach sehr flüssig Tibetisch. Der einzige Dolmetscher ins Deutsche hat Bewundernswertes geleistet, denn Seine Heiligkeit sprach jeweils 10 bis 20 Minuten am Stück. Das Hallenstadion im Zürcher Vorort Oerlikon glich in diesen milden Augusttagen für eine Woche lang weniger einem Tempel mit einem rotem Teppich (rot ist die Farbe der Freude) als einer Universität. Egal, ob dieser berühmte buddhistische Mönch vom Mitgefühl, von der Notwendigkeit der Gedankendisziplin, von der Vergänglichkeit, von der Verzerrung der Dinge durch unser Bewusstsein sprach, er appellierte an den Verstand wie ein Philosoph und nicht wie ein religiöser Prediger. Er appellierte nicht einmal, er analysierte nüchtern. Der Altruismus sei besser als der Egoismus, weil er der Gemeinschaft und langfristig auch einem selbst nütze, da wir alle miteinander verbunden seien. Positiv zu denken bedeute nicht nur, die wahre Natur der Dinge zu erkennen, sondern sei auch der eigenen Gesundheit zuträglich. Er sprach vom kleineren und größeren Nutzen wie ein Pragmatiker. Wenn die Lüge einen kleineren Schaden als die Wahrheit anrichte, solle man eben lügen, das habe schon Buddha gesagt.
Sogar der Feind, meinte er provokativ, sei nützlicher als der Freund, denn die Kritik des Feindes bringe uns weiter als das Lob des Freundes, das nur unseren Hochmut nähre und uns daher an der geistigen Entwicklung hindere. Es hieß nicht auf die christliche Art "liebe deinen Feind", sondern untersuche die Situation, in die du mit einem Feind geraten bist, erkenne deinen Anteil daran, nütze die Existenz des Feindes für dich und verhilf sogar ihm zu mehr Einsicht, falls du kannst. Es sei besser den feindlichen Angriff gewaltlos zu beantworten, um die Gewalt als solche nicht zu mehren. Daraus ergibt sich das Postulat der Gewaltlosigkeit - nicht als absolut, sondern als vernünftig. Der Feind sei ein Lehrer der Geduld, das sei sein großes Verdienst. Was nicht bedeutet, dass man sich nicht bemühen soll, leidvolle Situationen aus dem Leben zu schaffen. Und nur weil wir das Leiden erfahren, erfahren wir auch das Glück. Der 14. Dalai Lama ermutigte zu mehr Glück, durch die Meditation, durch die Verringerung der Abhängigkeit von Begierde, Angst, Eifersucht und durch ein Leben zum Wohl der Anderen. Die Gefahren der Selbstaufgabe, die sich vor allem für Frauen, die lediglich zur Fürsorge sozialisiert werden, als verheerend erweist, scheint der Dalai Lama nicht zu kennen. Er warnte das männliche wie auch mehrheitlich vertretene weibliche Publikum nur vor dem Egoismus, den er - als Mann? - beim Menschen als a priori gegeben annimmt.
Der Friedensnobelpreisträger und Weltenbummler, ausgezeichnet mit mehr als 50 Preisen, wandte sich gegen die Polarisierung zwischen Freund und Feind, diese Begriffe seien relativ wie alles andere. Wenn irgendein Dorfpfarrer so redete, würde das nicht unglaubwürdig klingen? Es ist das tragische Schicksal des sechs Millionen Menschen zählenden tibetischen Volkes und die bewegte Lebensgeschichte des seit 45 Jahren Exilierten, die seinen Worten ein Gewicht verleihen. Hört man ihm zu, ist die brutale Okkupation Tibets stets gegenwärtig - die Verfolgung der Mönche und Nonnen, die langen Haftstrafen, die Folter, die Abholzung der Wälder, die ökologische Verschmutzung, die gezielte Ansiedlung der Han-Chinesen in Tibet, so dass aus der Bevölkerung eine Zweiklassengesellschaft wird. Das vom Dalai Lama, der ein erklärter Feind der chinesischen Regierung ist, ausführlich behandelte Wohlwollen dem Feind gegenüber, war in Zürich vor allem an die Adresse der dort anwesenden Tibeter gerichtet, so schien es. Für seine Milde der chinesischen Regierung gegenüber und für sein Eintreten lediglich für eine Autonomie innerhalb Chinas statt für eine volle Unabhängigkeit wird er von seinen Landsleuten kritisiert.
Seine Heiligkeit zeigte sich weniger als ein Heiler, wofür ihn manche halten, sondern eher als ein Volkspsychologe, zum Beispiel wenn er empfahl, bei Gefühlen - wie etwa der Wut -, diesen auf den Grund zu gehen und ihre zerstörerische Wirkung zu erkennen. Und auch dies ist ein psychologischer Grundsatz: Man dürfe den Menschen nicht mit seinen Handlungen gleichsetzen. Denken, zweifeln, hinter die Dinge schauen und Illusionen entlarven - nein, da saß kein Popstar auf dem Thron und keine blinde Masse verfiel ihm. Es gab allerdings auch kein Forum, um ihm zu widersprechen oder mit ihm zu diskutieren, nur an einem Tag durften ein paar Fragen gestellt werden. Das Interesse der Kenner galt der Auslegung der Schriften Shantidevas Bodhicaryavatara (Einführug in den Weg des Buddhismus) und Kamalashilas´ Bhavanakrama (Mittlere Stufen der Meditation), die zu den wichtigsten Werken der Philosophie und Praxis des Mahayana-Buddhismus gehören und aus dem 8. und 9. Jahrhundert stammen. Es seien Lieblingstexte des Dalai Lama, er las daraus vor und kommentierte sie. Auch wenn keine großen Neuigkeiten zu erfahren waren, saß man geduldig da, einige mit krabbelnden Kleinkindern. War man anfänglich aufgeregt, brachen etliche in Tränen aus, als er erschien, herrschte später eine tiefe Ruhe im Saal, die ansteckend wirkte, unterstützt durch die monotone Stimme des Meisters.
Die Atmosphäre des Respekts nicht nur für den Dalai Lama, sondern zueinander, war das Besondere an den täglichen Massenveranstaltungen. Sie breitete sich im angenehm belüfteten und renovierten Stadion aus, ob verbal oder nonverbal, in der Zuhörerschaft wie auch beim orange gekleideten Personal (meist junge Tibeter), das sanftmütig Hand anlegte, damit alles funktionierte. Und die Sanftmut schwappte auch auf Oerlikon über, wo während der Mittagspause Tausende von Rücksichtsvollen durch die Straßen schlenderten, Cafés und Restaurants besetzten, sich gedämpft unterhielten und zulächelten. Die Besitzerin des lokalen Reformhauses freute sich über die vielen Vegetarier und Bio-Konsumenten. Oerlikon ist sonst kein Vorzeigezürich, hier wohnen meist wenig verdienende Ausländer. Doch wer in diesen Tagen am Zürcher Bahnhof nach dem Weg nach Oerlikon fragte, war in Naturfasern gekleidet, höflich, nachdenklich. Eine junge Deutsche zweifelte, ob sie nicht verrückt sei, weil sie sich einen freien Nachmittag genommen und 75 Franken (50 Euro) Eintritt bezahlt hatte - vom Erlös der über 30.000 verkauften Eintritte sollten nebst Deckung der Organisationskosten gemeinnützige Projekte unterstützt werden, tröstete sie sich. Eine Pressefotografin aus Freiburg, die während der morgendlichen Einweihungszeremonie das buddhistische Gelübde abgelegt hatte - sie habe sich reif dafür gefühlt - stand später mit einigen Kollegen direkt vor dem großen Meister, und als ihre Kamera versagte, fluchte die frische Trägerin einer roten Schnur am Handgelenk "shit, shit". Es streiften sie bloß nachsichtige Blicke.
Mein 18-jähriger Sohn seufzte, als wir wieder mit der rauen Wirklichkeit konfrontiert wurden: "Stell dir vor, die ganze Welt wäre wie dort im Hallenstadion!" Doch er, der gerade frisch verliebt ist, stieß sich auch daran, dass der alle Wesen liebende Dalai Lama rät, die Männer sollten sich in der Versenkung die Hässlichkeit des weiblichen Körpers ausmalen und die Frauen dasselbe bezüglich des männlichen Körpers. "Das war für Mönche und Nonnen gedacht, um die Begierde in sich abzutöten", sagte ich. "Ich will weder Mönch noch Budhist werden", sagte mein Sohn, "doch der Dalai Lama hat auch zu mir gesprochen: dass ich nämlich mit Festigkeit meine Ziele verfolgen soll". Und was eine der Wirkungen des "Ozeans des Wissens" auf mich betrifft: Ich trage nun zur Humanisierung des Straßenverkehrs bei - wenn ich auf meinem Fahrrad von genervten Autofahrern brutal angehupt werde, zeige ich nicht mehr mit dem Finger, was ich von ihnen halte, sondern fahre sanft weiter und lächle in mich hinein.
Irena Brezná lebt als Publizistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Zuletzt erschien von ihr beim Aufbau-Verlag der Sammelband von Reportagen und Essays aus Mittel- und Osteuropa unter dem Titel Die Sammlerin der Seelen.
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