Verzeih dem Herzblatt

Alltag Zwei Geschichten von kleinen östlichen Fischen im Fangnetz des helvetischen Gesetzes

I. Die Gerichtsdolmetscherin kommt gerade an, als der lange Polizeiwagen mit verdunkelten Fenstern in den Hof einfährt. Sie steigt hinunter in den Kellergang, macht das Licht an, blättert in Boulevardzeitschriften, die das einzig Farbige in der grauen Einrichtung sind. Sie liest flüchtig eine Mordgeschichte, bis der Polizist erscheint, gut aufgelegt. Sie lächelt ihn angestrengt an: "Was ist es für ein Fall?" - "Ein Georgier, organisiertes Verbrechen. Solche Burschen kriegen wir zur Genüge. Sie behaupten, sie können kein Russisch. Aber das nehmen wir ihnen nicht ab. Georgisch ist doch ein Dialekt des Russischen." - "Aber nein." Die Dolmetscherin macht eine steinerne Miene. Der Polizist zündet sich eine Zigarette an: "Die kommen in die Schweiz, um zu stehlen. Bei uns ist kein Selbstbedienungsladen."

Der Anwalt trifft ein, ein schmächtiger, etwa 30-jähriger Mann mit aufgerissen azurblauen Augen und braunen Haarlöckchen über den Ohren. Er trägt eine schwarze Windjacke mit einem gelben Emblem aus niedlichen Wolfsspuren. Der Polizist rasselt mit dem Schlüsselbund, wankt durch den Gang wie ein Seemann, öffnet eine winzige Zelle: "Kommen Sie, kommen Sie schon". Aus dem Dunkeln heraus torkelt ein großer, schlanker junger Mann, verdreht mehrmals seine braunen Augen, zittert und hüllt sich noch fester in seine Jacke aus Schafspelz ein, unter der sein eingefallener Brustkasten wie ein Schlagloch aussieht. "Ja vascha perevodtschitsa, ich bin Ihre Dolmetscherin." Der Angeklagte nickt, setzt sich, sagt auf Russisch: "Ich bin auf Entzug. Werde ich freigelassen?" - "Drei Parfüms zu stehlen ist noch kein Grund, um Sie im Gefängnis zu behalten." Der Anwalt breitet eifrig die Akte aus. "Wann komme ich frei? Ich halte es nicht mehr aus, mein Blutdruck steigt, ich habe Schüttelfrost, seit zwei Tagen bin ich ohne Stoff." - "Wie oft müssen Sie ihn nehmen?" fragt die Dolmetscherin. "Alle vier, fünf Stunden, in der Schweiz ist das Heroin verschmutzt, es hält nicht an. In Georgien ist es so rein", das Gesicht des Angeklagten verklärt sich, "dass ein Gramm für zwei Wochen reicht." Es klingt nach Patriotismus, das Wort "rein" soll dem Verlorenen im fremden Land Halt und Heimat schenken. "Sie werden gleich nach der Verhandlung freigelassen. Ich plädiere dafür", der Anwalt wühlt entschlossen in den Papieren, korrigiert seine Notizen.

Die Glocke läutet. Nacheinander betritt die Gruppe den kleinen unterirdischen Saal. Der Haftrichter und der Gerichtsschreiber sitzen schon am langen Tisch unter dem Kellerfenster. "Der Staatsanwalt hat vier Wochen Haft beantragt. Der Richter fragt Sie, was Sie zum Diebstahl der drei Parfüms hinzuzufügen haben", wendet sich die Dolmetscherin an den Angeklagten. "Ich bitte das Gericht um Verzeihung, die Schweiz möge mir meine Tat verzeihen. Ich war irregeleitet und verspreche, es nie mehr zu tun und gebe hiermit mein Ehrenwort. Ich bin es satt, so weiter zu leben, ich will mich ändern." Die Dolmetscherin schmückt seine Rede aus, fügt "verehrtes Gericht" und "ganze Schweiz" hinzu, beim "Ehrenwort" stolpert ihre Stimme vor Rührung. Für die Männer, den Polizisten inbegriffen, der bewaffnet vor der Tür sitzt, klingt die Reueerklärung peinlich, das Pathos weckt Misstrauen, es wird mit Unberechenbarkeit assoziiert. Nur der Anwalt hört wohlwollend zu, lauscht den anziehenden Klängen der Fremde, stellt sich kaukasische Farbenpracht vor. Er hält eine lange und feurige Rede zu Gunsten des Angeklagten. Der Haftrichter stiert in die Akte und sagt vorwurfsvoll: "Sie haben schon vor sechs Wochen einige Stangen Zigaretten gestohlen, stimmt das?" - "Ich werde es nie mehr tun", der Angeklagte senkt den Kopf. - "Warten Sie bitte alle draußen", ordnet der Richter unwirsch an.

Im Gang bittet der Angeklagte rauchen zu dürfen. "Das können Sie schon. Wir sind nicht so", sagt der Polizist und raucht mit. "Der Richter sieht nicht böse aus", meint der Angeklagte kindlich nach ein paar hastigen Zügen. "Er ist der beste, den wir haben", in des Anwalts Stimme klingt Stolz mit. "Ich hasse die Dealer", sagt der Kaukasier. "Am Bahnhof sitzt einer, wenn man vorbei geht, spielt er mit der Zunge, das bedeutet: Ich habe Kokain. Den Hals könnte ich ihm umdrehen." Der junge Mann macht eine heftige Bewegung, als würde er ein Handtuch auswringen. "Aber das ist bloß Ihre fixe Idee. Wenn Sie nichts kaufen, ist er machtlos." Die Dolmetscherin ist bemüht, ihn in der kurzen Pause zu therapieren. "Ja, einen Willen muss man haben, aber das ist es eben, die Droge vernichtet den Willen. Früher boxte ich, rannte, wog 100 Kilo, jetzt bin ich auf 70 abgemagert. Und wenn ich heute nicht frei komme, steht mir eine schlimme Nacht ohne Stoff bevor. Manche sind schon in einem solchen Zustand an der eigenen Zunge erstickt. Ja, ich hatte schlechte Freunde, sie sagten: probiere es, du wirst nicht süchtig werden." - "Das sind nicht die Freunde, das ist nicht die Droge. Das sind Sie selbst", setzt die Dolmetscherin die Therapie fort. "Sie geben den anderen die Macht, damit Sie selbst das Opfer bleiben dürfen, damit Sie jammern können. Dabei könnten Sie über der Droge stehen. Sie brauchen nur daran zu glauben." - "Ich habe schon viel Schreckliches erlebt", der Georgier erzählt von den körperlichen Leiden, die die Droge bewirkt habe. Er spricht mit Achtung und Hass von ihr, sie ist ihm Feind und Freund, Vater und Mutter, Teufel und das Leben selbst. Er scheint bei sich nichts anderes entdeckt zu haben, als seinen Körper, den er der Droge schenkt, um ihn zu vernichten, und als Gesprächsstoff bietet er die angeberischen Erzählungen über das Ertragen dieser Vernichtung an. "Wenn Sie in der Schweiz bleiben wollen, dürfen Sie nichts mehr anstellen", ermahnt ihn der Anwalt väterlich. Die Dolmetscherin erklärt dem Anwalt ihre Version des Falles. "Sein Problem ist der Selbsthass. Darum geht es und nicht um Gefängnis oder Freilassung, nicht um Georgien oder Schweiz. Wie könnte er lernen, sich selbst zu lieben?", fragt sie sich verträumt. Der Anwalt hört nicht hin und fordert sie auf, zu dolmetschen: "Sie haben einen Asylantrag gestellt mit der Begründung, in Georgien sei Krieg. Was für einen Krieg meinen Sie?" - "Im Pankisi Tal ist Krieg. Aber das Schlimmste ist, dass dort eine Heroinfabrik steht. Und in der Nachbarrepublik Dagestan steht auch eine." - "Mein Gott", ruft die Dolmetscherin aus, "er kennt die Welt nur als Droge!" Der Georgier raucht mit geschlossenen Augen. Die Glocke läutet wieder.

Der Haftrichter verkündet es gleich zu Beginn: "Vier Wochen Untersuchungshaft, danach Ausschaffungshaft und Ausschaffung nach Georgien." Eine gedrückte Stimmung breitet sich aus. Nur der Polizist wird lebhaft. Der Richter zwingt sich, das Urteil sachlich vorzutragen, erläutert kurz die Begründung und beendet die Verhandlung. Der Anwalt sieht aus, als hätte man ihn geohrfeigt, die Haarlöckchen legen sich gerade über die Ohren, der Georgier nimmt es äußerlich gelassen hin. Die Dolmetscherin überschreitet ihre Rolle und verlangt, dass der Angeklagte im Gefängnis medizinisch betreut werde. Der Richter ist überrascht, verzieht den Mundwinkel nach unten und willigt ein. Der Polizist legt dem Georgier die Handschellen an und führt ihn in den Polizeiwagen ab.

"Nur weil er ein Ausländer ist, wurde er eingelocht", empört sich der Anwalt. "So kriminalisiert man Menschen. Drogensucht ist kein Verbrechen. Jeder darf mit seinem Körper machen, was er will." - "Wenigstens schenkt ihm die Zelle den Entzug", tröstet sich die Dolmetscherin. Der Richter gibt zerknirscht zu: "Ich konnte ihn nicht freilassen. Er ist allzu krank und wird weiter stehlen, er braucht das Heroin. Und bald kommt er wieder hierher."


II. Die Stimmung im Gerichtssaal ist lahm, der dunkle Spannteppich, die kahlen Stühle und langen Tische sind schon an vieles gewohnt und abgewetzt, nur der vermeintliche russische Dieb aus Tadschikistan ist aufmüpfig, er pulsiert, schließlich ist er das Herz des Geschehens und sitzt im Zentrum des Raumes. Der Richter macht eine bedenkliche Miene, der Gerichtsschreiber mit zwei dunklen Haarsträhnen über dem kahlen Kopf schreibt die ungeschickten Lügen des Fremden mechanisch auf. Der Richter fragt über die Maßen traurig, ob der Angeklagte denn wisse, wie das Fleisch heiße, das er im Wert von 47 Schweizerfranken gestohlen haben soll. Der junge Mann weiß es nicht und behauptet, er habe es nicht gestohlen, das sei der Andere gewesen, der dann geflüchtet sei. Der Richter blättert depressiv in zwei dicken Akten: "Sie sind vorbestraft". - "Ja, aber das ist die Vergangenheit. Das war falsch, heute bin ich ein anderer", verkündet der hochgeschossene Russe. Seine modischen Anpassungsversuche, die ausgebleichten schwarz-weißen Jeans, das gestylt pomadierte nach oben gekämmte blonde Haar machen ihn hier auch nicht heimischer. "Warum tragen Sie eine Zange bei sich?" fragt der Richter. "Ist das etwa verboten? Ist eine Zange etwa eine Waffe?", kontert der junge Mann. Der Richter seufzt: "Mit der Zange kann man die Sicherheitsmarken von Produkten entfernen. Ich weiß, Sie hatten eine schwere Kindheit. Die Mutter starb bei der Geburt, der Vater fiel in Afghanistan."

Die Detektivin aus dem bestohlenen Warenhaus wird in den Zeugenstand gerufen, sie zittert, als begebe sie sich in große Gefahr. Nachdem sie den Eid der Wahrheit abgelegt hat, erklärt sie mit einer schwachen Begräbnisstimme, dass sie mit eigenen Augen beobachtet hätte, wie der Angeklagte das Lammfleisch in den Rucksack gestopft habe. Der Richter nickt besorgt und spricht dann das Urteil: "Sieben Tage Gefängnis". Im Gang wirft sich der Angeklagte auf die Knie, breitet die schlacksigen Arme aus und schreit: "Ich bin unschuldig! Ich schwöre es bei meiner Mutter!" Dann besinnt er sich, dass er sie für tot erklärt hat und korrigiert: "Beim Andenken an sie." Der Richter und der Gerichtsschreiber machen bei diesem Auftritt je zwei Schritte zurück und wenden blass ihre Gesichter ab. Die rundliche Detektivin drückt sich in die Ecke. Die Theatralität, vertraut lediglich aus Dostojewskis Romanen, bricht in die Gemütlichkeit der eigenen Regeln wie Unheil herein. Der Wahnsinn breitet sich im soliden Gerichtsgebäude aus, eine unverhältnismäßige Angst vor dem kleinen Dieb aus dem als bedrohlich empfundenen Osten hat alle wie ein Virus befallen. Nur die Dolmetscherin tritt näher an den Burschen heran, der sich auf einmal schluchzend in ihre Arme stürzt, woraufhin sie lachend seine Hand streichelt: "Du, lapotschka, lapotschka, das ist doch nichts, nur sieben Tage." Bald darauf richtet sich der 26-ährige auf und entschuldigt sich für seine kindlichen Tränen. Als die Dolmetscherin das Gerichtsgebäude verlassen will, fragt sie der Staatsdiener: "Was haben Sie dem Russen zugeflüstert?" "Lapotschka, das heißt Pfötchen". - "Aha, ich verstehe, Langfinger", beruhigt er sich. "Nein, Pfötchen ist ein russisches Kosewort so was wie Herzblatt." Da tritt der Beamte erschrocken zwei Schritte zurück.

Der Verurteilte holt die Dolmetscherin auf der Strasse ein, sucht nach dem taktilen nun auch einen moralischen Halt: "Das Asylheim ist voll von Arabern. Es ist unerträglich, mit ihnen zu leben. Sie haben schließlich meinen Vater getötet." "Afghaner sind keine Araber. Und was hatte dein Vater in Afghanistan zu suchen? Er hat seinerseits getötet." -"Das war prikas." - "Auch einen Befehl kann man verweigern." - "Prikas verweigern?" Er buchstabiert die große Ungeheuerlichkeit und tritt zwei Schritte zurück.

Irena Brezna ist Autorin der Ost-West-Geschichten Die Sammlerin der Seelen, Unterwegs in meinem Europa, Aufbau-Verlag, 2003.


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