Das Spiel des Lebens

Schule Casino real: Eine Leipziger Theatergruppe zeigt, wie ungerecht es im deutschen Schulsystem zugeht.

Auf los geht’s los, aber vorher werden die Karten gezogen. Zwei Schauspieler greifen in eine Lostrommel und ziehen die eigene Biografie. „Mein Großvater war Bergarbeiter im Ruhrgebiet, mein Vater war Metzger und DJ“, verliest ein Darsteller seine Karte. „Meine Eltern waren die ersten Akademiker in der Familie“ steht auf dem Los seiner Spiel-Partnerin. Dann stehen ihre unterschiedlichen Startpositionen im Spiel des Lebens fest. Mit dem Stück „Casino real“ bringt die freie Theatergruppe Werk1 aus Leipzig Leben und Schule als Planspiel auf die Bühne. Die Schauspieler müssen sich durch verschiedene Level der Schule zocken und dabei wird kritisch beleuchtet, wie man dort punktet: Statt Persönlichkeit zählt Leistung, Anpassung und etwas, für das man gar nichts kann: die eigene Herkunft. Zur Vorbereitung hat die Theatergruppe alle drei Schulformen besucht um Lebenswelten, Einstellungen und Träume der Schüler zu verstehen. Eine der drei Gymnasialklassen, die an diesem Tag in der Vorpremiere im Lofft 21 sitzt, hat im Vorfeld mit den Theaterleuten zusammen gearbeitet.


Als Spielbrettersatz haben die Schauspieler silberne Hula-Hoop-Reifen auf den Boden geschmissen. Sie würfeln und hüpfen in ihrer Rolle als Schüler durch die Kreise, die wie Ereignisfelder funktionieren. So wird Eva Klassensprecherin, sie singt außerdem so schön: Noch einmal würfeln, die Empfehlung fürs Gymnasium hat das Mädchen in der Tasche. Thorsten hingegen ist sprachbegabt, aber der Junge lenkt andere im Unterricht ab, deshalb bleibt ihm die höchste Schulform verwehrt. Eine Schauspielerin fragt: „ Warum sind Mädchen besser in der Schule?“ Leises Murren im Raum. „Das liegt ja nicht daran, dass sie intelligenter sind oder so. Mädchen werden mehr zu Anpassung und Folgsamkeit erzogen und geben dem System, was es verlangt“, bemängelt sie. „Schule ist kein Casino wo jeder die gleichen Chancen hat. Eher wie Tetris, du drehst dich in die Form, in die du passen musst“, heißt es an anderer Stelle zum selben Thema.
In einem weiteren Level sammeln die Akteure Punkte. Sie dürfen Reifen aufnehmen oder müssen sie fallen lassen : Einen Reifen für Eva für das Abitur mit 18 , einen für die fünf Sprachen, die sie spricht. Thorsten hat hier erneut schlechte Karten mit seinem Realschulabschluss. Aber er holt auf, punktet damit, einen Bauwagenplatz besetzt und sein Abi nachgemacht zu haben. Nicht alles ist mit einer vertanen Chance vorbei, soll das wohl zeigen. Am Ende landen beide auf der gleichen Schauspielschule. Die Darsteller von Thorsten und Eva haben ihre eigenen Biographien in das Spiel mit eingebracht.

Alles kommt in die Waagschale

Wohl am deutlichsten bringt eine Runde Quartett zum Ausdruck worum es hier geht. Bei einem Schulbesuch haben die Theaterleute gemeinsam mit Jugendlichen die Spielkarten erstellt. Dafür haben sie Angaben über Hobbys und Fähigkeiten der Schüler gesammelt und daraus Steckbriefe gebastelt. Nun spielen Thorsten und Eva sie gegeneinander aus. Schon die Namen zählen: Die Karte von Horatio von Böhmen ist mehr wert als die von Dietmar Obieczky. In der Kategorie „bestandene Prüfungen“ zählt Jugend musiziert ( Horatio von Böhmen) höher als einfach nur der Führerschein. Der größte eigene Fehler, Krankheiten in der Familie, die Anzahl der bereisten Länder, die eigenen Ziele – alles ist im Steckbrief aufgelistet und wird mit in die Waagschale des Lebens geworfen. Der Traum „Um die Welt segeln“ bringt mehr Punkte, als der Wunsch „Ins Big Brother Haus ziehen“.
Wie verschieden nicht nur der Start ins Leben, sondern auch der in jeden neuen Schultag sein kann, zeigt die Theatergruppe in einem kurzen Film. Darin spielen sie nach, wie sie junge Männer morgens vor der Schule besuchen . Kevin, 17 (bei der Nennung des Namens lachen die Gymnasiasten spöttisch) wohnt im zerfallenen Plattenbau, seine alleinerziehende Mutter ist schon bei der Arbeit und zum Frühstück raucht er ein paar Marlboro. Alexander, 17, liest über seinem Müsli eine Tageszeitung und hat sogar einen Vater, von dem er sich verabschieden kann. Dabei werden die Schüler alle von demselben dunkelhäutigen Darsteller gespielt. Einem Gymnasiasten ist scheinbar nicht weiter aufgefallen, dass es sich nur um einen Darsteller handelt. Im Publikumsgespräch will er wissen, „warum die Szenen nur dunkelhäutige Menschen zeigen.“ An dieser Stelle muss man sich zum ersten Mal fragen, wie viel von dem, was die Theatergruppe ausdrücken will, die Schüler überhaupt erreicht.

Reinheitsgebot Gymnasium ?

Mit ihrem Konzept vom Spiel des Lebens, in dem sich jeder mit verschiedenen Werten selber ausstattet und mit einigen schon geboren wird, bezieht sich die Schauspieler auf die Habitus Theorie des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Pierre Bourdieu. Sie zitieren ihn und rufen schließlich in seinem Namen zur sozialen Revolution auf, was die Schüler allerdings wenig zu beeindrucken scheint. Immer deutlicher wird das Stück mit der Kritik am System: „ 80 Prozent aller Chefs haben Chefs als Väter“ und der Ungerechtigkeit des Bildungssystems: „Die Debatte um die Gymnasien wird in einer Weise geführt, als ginge es hier um das Reinheitsgebot.“ Im Publikum wird es unruhig, die deutlichen Worte scheinen nicht allen Gymnasiasten zu gefallen.
Während des Publikumsgesprächs loben sie dennoch artig viele Aspekte des Stücks. Dem einen hat das gefallen, was über die Mädchen gesagt wurde, dem anderen der Tetris-Vergleich. Erst unter vier Augen äußern sich die Besucher ablehnend zur Kernaussage von „Casino Real“. Sehen sie sich als Gymnasiasten vom System bevorzugt? „Nein“, so ein Schüler, denn schließlich würden ja die Jugendlichen auf der Mittelschule ( der sächsischen Realschule) besonders gefördert. Ist es besser, wenn Gymnasiasten unter sich sind? Ja, denn es störe ja schon, wenn dann einer zehnmal nachfrage, sagt ein junges Mädchen. Eine Trennung müsse sein, aber vielleicht nicht so streng, so immerhin der versöhnlichste Ton.

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