Hastige Nostalgie

Wahlkampf Im Retro-Zug reiste Kanzlerin Angela Merkel durch die Republik – und wollte bei ihrem "Deutschlandtag" Bürger treffen. Das gelang ihr allerdings nicht wirklich

Ob sie wohl hier vorbei kommt? Oder hintenrum geschleust wird? „Sie muss Volksnähe demonstrieren, da muss sie hier vorbei“, spekuliert ein Zuschauer, der sich „Angie mal aus der Nähe anschauen“ will. Knapp 100 Menschen stehen mit ihm am Zugang zu Gleis neun im Leipziger Hauptbahnhof und warten darauf, dass der Retro-Zug mit Angela Merkel einfährt. CDU-Fähnchen sucht man vergeblich, viele scheinen eher zufällige Passanten zu sein. Sie stehen herum, essen und trinken etwas, während sie auf die Kanzlerin warten.

Auf ihrer Tour mit der alten Luxusbahn "Rheingold" macht Merkel Stippvisiten an Orten, die „symbolisch für 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland und 20 Jahre Deutsche Einheit stehen“ sollen. "Deutschlandtag" heißt das dann pathetisch im CDU-Sprech. Die Partei will damit auch Konrad Adenauer gedenken, der vor 60 Jahren zum ersten Bundeskanzler ernannt wurde.

Es ist eine seltsame Veranstaltung für Merkel, der als ostdeutschen Kanzlerin so oft Wurzellosigkeit vorgeworfen wird. Ihre Reise begann am Morgen in Rhöndorf mit einem Besuch am Grab von Adenauer und endet am Abend schließlich in Berlin. Damit will die Kanzlerin vor allem den traditionellen Union-Wählern signalisieren, dass sie sich den Mythen der Partei bewusst ist, dass sie sich in der Tradition des "Alten" sieht. Aber die Reise mit Adenauers Grab als Ausgangspunkt erzählt auch von der Sehnsucht nach Wirtschaftswunder-Zeiten, als es noch zweistelliges Wachstum gab und Volksparteien diesen Namen noch zu Recht hatten.

Als der "Rheingold" in Leipzig einfährt, schieben sich ein paar japanische Touristen nach vorn. Der Zug ist cremefarben und rot lackiert, sieht ansonsten eben aus wie eine alte Bahn. Hälse recken sich und Hände mit Fotohandys gehen in die Höhe, als schwarze Anzüge den Bahnsteig fluten. Die Kanzlerin kommt flott herbei geschritten, gibt dem Zugführer noch schnell die Hand – Volksnähe demonstrieren. Die Wartenden applaudieren eher höflich als enthusiastisch. Um den Ring aus Sicherheitsbeamten bildet sich ein zweiter aus Fotografen und Kameramännern, von Merkel ist nichts mehr zu sehen. Zügig schreitet der Pulk fort, die Treppen hinunter durch die Vorhalle. Von oben ist die Kanzlerin nur noch ein lila Punkt im schwarzen Meer aus Security-Männern.

Wer will, kann den Trupp durch die Stadt verfolgen. Der angekündigte Spaziergang zum zeitgeschichtlichen Forum wird aber eher ein strammer Marsch, die Kanzlerin wirkt gehetzt. Es ist ihr siebter Termin heute. In der Gruppe fällt ein älterer Herr auf, der um den Hals ein CDU-Band zu seinem feinen Anzug trägt und dem es schwer fällt, Schritt zu halten – es ist Hermann Josef Werhahn, Schwiegersohn von Adenauer und seit 59 Jahren mit dessen Tochter Libet verheiratet. Er ist seit heute morgen dabei als Merkel am Adenauer-Grab einen Kranz niedergelegt hat. Als Familienmitglied scheint ihn der Politshow-Charakter nicht weiter zu stören.

Keiner will mit Eiern werfen

Obwohl ihm beim schnellen Laufen die Luft knapp wird, versucht er dabei die Vorteile der sozialen Marktwirtschaft zu erklären. Am Museum angelangt muss sich Werhahn bemühen, noch schnell hinter seiner Frau durch die Sicherheitsschleuse zu kommen. Die Leipziger Bürger bleiben zurück und warten bis Merkel wieder auftaucht. Unterhalten wird die Menge von einem Spaßvogel mit orangefarbenem Regenschirm, der „die Gedanken sind frei“ grölt und irgendetwas über Demokratie. Er erntet den scharfen Blick eines Polizisten und versichert ihm vorsorglich, dass er auf keinen Fall mit Eiern und Tomaten werfen wolle.

Zuschauer Ralf Kraml ist eher kein Merkel Fan, und er hat auch eine Erklärung, warum der Merkel Besuch so wenig enthusiastisch aufgenommen wird: „Die Wirtschaftsmisere hat viele enttäuscht.“ Als die Kanzlerin wieder aus dem Museum kommt, wirkt sie etwas gelöster, wendet sich ruckartig den Menschen zu und schüttelt ein paar Hände. Sie lächelt. Dann geht es zurück Richtung Bahnhof, der gleiche hektische Marsch ist nun von Fotostops unterbrochen. Es ist ein Termin fürs Fernsehen, nicht so sehr für die Leute vor Ort. „Die Angie ist da“, staunt ein Betrunkener in der Fußgängerzone.

Ein CDU-Mann ruft: „Danke für ihren Besuch.“ Merkel wirft ihm ein „Leipzig immer“ über die Schulter zu. Was gefällt dem Merkel-Anhänger an dieser Wahlkampfaktion? Er lobt die Idee der nostalgischen Zugfahrt: „Da verbinden wir das gute Konservative mit dem Modernen“, sagt er. Was ist dabei das Moderne? „Na, unsere Kanzlerin mit ihrer Politik.“ Im Kanzlerduell mäkelte dagegen Herausforderer Frank-Walter Steinmeier noch zwei Tage vorher, ein Nostalgie-Zug stehe nicht für die Arbeit von morgen.

Es wirkt wie eine Mutprobe

Kurz vor dem Bahnhof macht Merkel noch etwas Seltsames. Mitten im Lauf schwenkt sie nach links in einen vietnamesischen Imbiss. Die Sicherheitsleute rennen sich fast gegenseitig über den Haufen, um ihr zu folgen. Eine skurrile Szene. Merkel steht vor den Angestellten und sagt etwas in der Art wie: „Aha, Sie arbeiten hier, ja? Hallo.“ Dann wackelt sie mit dem Kopf, lächelt und geht wieder raus. Das Ganze wirkt ein bisschen wie eine Mutprobe, zu der sie sich überwinden musste.

Ein letztes Mal den Kontakt mit Bürgern sucht sie auf dem Bahnsteig, wo zwei Teenager stehen. „Na, wo kommt ihr den her?" – "Na, wo denn da?“, es klingt streng. „Und was gibt es da zu sehen?“ Merkel fällt nichts mehr ein. Die Blitzlichter der Fotografen erzeugen rote Reflexionen in ihren Augen. „Dann kommt mal gut nach Hause.“ Während die Kanzlerin wieder den Zug besteigt, wird ein Eisenbahnfan von Kamerateams fast überrannt und macht seinem Ärger Luft: „Ich bin doch wegen dem Zug hier, nicht wegen der Merkel.“

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