Nadine Wedel hat die drei Wörter extragroß und in schwarzer Farbe geschrieben. Jetzt hält sie die Seite hoch, damit alle im Publikum sie lesen können: „Tod der Liebe“ hat sie über ein halbes Blatt ihres Tagebuchs gekrakelt. Bestimmt hat sie das ernst gemeint, damals mit 16. Heute ist sie 31 und lacht über diesen Eintrag – gemeinsam mit gut 60 Zuhörern, die zum Diary Slam ins Hamburger Aalhaus gekommen sind. Seit anderthalb Jahren laden Nadine Wedel und Ella Carina Werner einmal im Monat jeden ein, auf der Bühne aus seinem Tagebuch vorzulesen. All das, was einmal das größte Geheimnis war: Liebesgedichte, Kummer, Hasstiraden oder ganz banale Alltagsgeschichten.
Melden sich nicht genug Freiwillige, lesen die beiden auch selbst etwas vor, wie an diesem Donnerstagabend. Wedels Geschichten kommen allein schon deshalb gut an, weil das Publikum etwa im selben Alter ist. An ihre Teenagerjahre in den Neunzigern können die meisten sich noch gut erinnern. Wedel hat damals am liebsten „Rap und Dance“ gehört und in ihrer Stammkneipe „Handkuss“ Tequila getrunken, obwohl sie fand, dass der „zum Kotzen schmeckt.“ Sie liest vor, dass sie in Marko verliebt war, der aber mit Steffi nach Hause ging. „Was haben sie noch gemacht?“, fragte sie ihr Tagebuch damals in höchster Not. Um zu dem Schluss zu kommen: „Ich bin einfach zu dumm, um einen Freund zu finden.“ Das Publikum johlt.
Michi und Franzi
Es geht beim Diary Slam aber nicht nur ums kollektive Lachen über einstiges Teenie-Pathos. Bei einer Veranstaltung zuvor las eine Frau aus ihrem Tagebuch vor, was ihr nach der Scheidung von ihrem Mann durch den Kopf ging: „Spirale weg, Mann weg. Nichts drückt und piekst mehr.“ Beim Vorlesen konnte sie darüber dann auch selbst wieder lachen, was ihr vorher unmöglich gewesen war.
Später an diesem Abend betritt ein Mann, der sich als „Michi“ vorstellt, das Podium. Michi hat mit Anfang 20 viel über Frauen gelernt. Er schrieb damals über Franzi, in die er nicht verliebt zu sein glaubte, bei der er sich aber „einfach wohl fühlte“. Franzi, erfährt man, küsste schlecht und brauchte viel Kuschelsex. Nachts wachte sie immer auf, wenn er auch wach war, was er „den Wahnsinn“ fand. Franzi war noch etwas unerfahren, was Michi frustrierte. Er überlegte, ob er „beim Beibringen nicht etwas offensiver werden soll“. Das alles trägt der heute 29-Jährige ohne Scheu vor. Zum Schluss setzt er dann noch einen drauf. Er verliest eine Liebeserklärung an seine heutige Freundin, die in der ersten Reihe sitzt. Über das improvisierte Podium aus Obstkisten hinweg blinzelt er sie an.
„Never ever“ würde sie so etwas tun, murmelt eine Zuhörerin entsetzt, schon das bloße Zuhören wecke bei ihr Schamgefühle. Eine andere sagt, ihr sei es zwar auch etwas peinlich gewesen, den Bettgeschichten von Michi zu lauschen, aber sie habe auch Respekt davor, dass er sich so öffne. Was ihr beim Diary Slam gefällt? Dass es authentischer sei als alles, was Menschen in sozialen Netzwerken von sich preisgeben: „Das hier Vorgelesene war einfach niemals für die Öffentlichkeit bestimmt.“ Selber mitmachen würde sie aber nicht.
Gerade weil das alles ja ursprünglich nie jemand lesen oder hören sollte, gibt es auch Grenzen. Ein Moderator spricht regelmäßig Warnungen aus, bevor er Leute aufruft vorzulesen: „Ihr solltet mit dem abgeschlossen haben, was ihr vorlest.“ Und: „Man sollte eine bestimmte Reife mitbringen.“ Am besten sei ein Sicherheitsabstand von einigen Jahren zwischen Tagebucheinträgen und dem Zeitpunkt des Vortrags.
Bitte keine Depressionen!
Es gab auch schon Vorleser, die aktuelle Einträge zum Besten gegeben haben. „Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass das nicht funktioniert“, sagt Mitveranstalterin Ella Carina Werner. „Das Publikum weiß dann nicht, wie es damit umgehen soll. Wenn zum Beispiel jemand etwas über seine Depressionen vorträgt und offensichtlich noch immer darunter leidet.“ Die Idee zum Diary Slam sei ja eigentlich gewesen, Dinge vorlesen zu lassen, die „so lustig und so beknackt wie möglich sein sollten“.
Werner selbst trägt heute Gedichte vor, von denen sie in ihrer Jugend „etwa eins pro Tag“ geschrieben hat. Das Gefühl, viel von sich preiszugeben hat sie dabei nicht: „Dafür ist es zu lange her.“ Es gibt trotzdem Dinge, die sie niemals vorlesen würde. Das sagen auch die zwei Frauen, die im Stechen gegen Michi antreten und vorlesen müssen. Die Schulfreundinnen haben Passagen ausgewählt, die vom heimlichen Verliebtsein in den gleichen Jungen erzählen. Jugendprobleme wie Streit mit den Eltern oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper würden sie hier aber lieber nicht teilen wollen. Sie möchten aber mal ausloten, ob auch ernstere Themen ankommen, um dann vielleicht beim nächsten Mal zu etwas Schwerem zu greifen.
Der Erfolg des Diary Slam zeigt, dass es auch in einer Gesellschaft, in der es eigentlich nicht an intimen Bekenntnissen mangelt, eine Sehnsucht nach ungefilterten Emotionen gibt. Im Hamburger Aalhaus sind an diesem Abend noch die letzten Stehplätze belegt. In anderen Städten entstehen Tagebuch-Bühnen nach dem Hamburger Vorbild. Und vor Kurzem wurde ein Buch veröffentlicht, in dem die originellsten Einträge gesammelt wurden.
Dabei ist es wohl kein Zufall, dass gerade die Generation zum Diary Slam strömt, die vor der Facebook-Ära erwachsen wurde. Menschen um die 30 haben Freunde zu Schulzeiten noch nicht per Mausklick, sondern in Freundschaftsbüchern gesammelt. Neuigkeiten wurden nicht in Netzwerken gepostet, sondern in kleine Bücher geschrieben. Der Hunger nach Authentizität scheint in dieser Altersgruppe aber besonders stark. Interessant wird es dabei immer dann, wenn Grenzen ausgelotet werden. Im Finale gewinnt Michi gegen die Schulfreundinnen: Eine Publikumsjury entscheidet sich für ihn, weil er bei den Zuhörern die stärksten Emotionen geweckt habe. Als Preis des Abends erhält er eine Tüte Schlumpfgummi.
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