Stuckrad-Barre und "Noch wach?": Eine Klasse feiert sich selbst

Klassenpolitik "Noch wach?" zeichnet kein Sittengemälde unserer Zeit, sondern das einer sozialen Klasse, die sich auf der politisch richtigen Seite wähnt, der aber Empathie mit den sozialen Problemen in diesem Land fehlt

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Seit Tagen verfolge ich die Debatte um Benjamin Stuckrad-Barre und seinen Roman "Noch wach?" und merke, wie mich der Rummel um ihn und sein Buch sowie das Thema als solches extrem wütend machen. Gibt es in diesem Land wirklich keine wichtigeren Themen als der ewige Gymnasiast und Bescheidwisser Stuckrad-Barre, der jetzt, Jahre nach "Metoo", plötzlich das Thema für sich entdeckt, ausschlachtet, und dabei Applaus von einer, nein, seiner privilegierten Klasse bekommt, der es offenbar vollkommen egal ist, wie dreckig es vielen Menschen in diesem Land geht? Hohe Energiekosten, Inflation, krasse Reallohnverluste, unbezahlbare Mieten? Uns doch egal. Würde man die aktuellen sozialen Themen wirklich ernst nehmen und die Misere der Vielen mindestens anerkennen, wären Stuckrad-Barre und sein Buch kaum mehr als eine Randnotiz. Stattdessen goutiert man eine Hauptfigur, die an Swimmingpools sinniert, zwischen Europa und den USA hin und her jettet, mit Millionären und Milliardären zu tun hat, und unglaublich sensibel zuhört. Man trifft sich groß zur Buchpräsentation ausgerechnet im "Berliner Ensemble" - benannt nach dem Kommunisten Bertolt Brecht - und hat kein Problem damit, auf dem Weg dorthin wahrscheinlich an zig Obdachlosen und Bettlern vorbei zu fahren, im Blick nicht diese Menschen und ihre unwürdigen Lebensbedingungen, sondern die vermeintlich gute politische und moralische Sache, es geht schließlich ja gegen Springer und den Machtmissbrauch von Frauen im Medienbetrieb. Dass Machtmissbrauch in vielen Arbeitsverhältnissen, bei Frauen UND Männern, gang und gäbe ist, gerade vermutlich in atypischen Arbeitsverhältnissen, die im Übrigen stetig zunehmen - uns doch egal. Egal auch, dass dieser Medienbetrieb und der Springer-Verlag Stuckrad-Barre zum Millionär gemacht haben. Der Autor hat von Springer über ein Jahrzehnt lang monatlich einen fünfstelligen Betrag überwiesen bekommen hat - für vier Artikel im Jahr wohlgemerkt. Jetzt hat er dadurch offenbar so ein komfortables finanzielles Polster - möglicherweise hat er das aber auch schon von Hause aus, so als Pastorensohn - dass er seinen ehemaligen guten Freund für ein Buch, die mediale Aufmerksamkeit, und natürlich auch wieder Geld, problemlos verraten kann. Verrat und Opportunismus scheinen der Modus des Umgangs in dieser Klasse zu sein - heute bester Freund, morgen landen die persönlichen SMS in einer Zeitungsredaktion oder halt in einem Buch, wenn man sich nur als auf der moralisch richtigen Seite stehend darstellen kann. Der Themenkomplex Stuckrad-Barre zeichnet ein Sittengemälde nicht unserer Zeit, wie behauptet, sondern einer sozialen Klasse, die ihre selektive Moral vor die Empathie mit sozial Benachteiligten stellt. Ich hoffe doch sehr, dass sich Stuckrad-Barre sich des mehr als virulenten Themas soziale Klasse in, sagen wir fünf Jahren, nicht annimmt, wenn das Thema also auch zu ihm gedrungen ist, und ein Buch daraus macht. Das soll er schön den Leute überlassen, die etwas davon verstehen und echtes Interesse am Thema haben.

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Geschrieben von

Isameca

Interessiert an Klassenpolitik, Politik allgemein, Medien, soziale und gesundheitliche Themen

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