Seit 20 Jahren gibt es das Aussteigerprogramm EXIT, Maik Scheffler gehört zu den etwa 750 Ex-Neonazis, die mithilfe der Organisation den Ausstieg schafften. Zuerst wollte Scheffler es allein machen, erzählt er. Als er dann in seinem alten Job als Dozent für Erwachsenenbildung Flüchtlinge in Deutsch unterrichtete, kehrten die alten Ressentiments zurück.
der Freitag: Herr Scheffler, Sie waren 17 Jahre Rechtsextremist, zuletzt stellvertretender Vorsitzender der NPD in Sachsen. Wie begann Ihr Ausstieg?
Maik Scheffler: Begonnen hat es mit einer menschlichen Enttäuschung. Der damalige Landesvorsitzende Holger Apfel, der für mich ein wichtiger Mentor war, hatte parteiintern etwas gemacht, was all dem, woran ich geglaubt hatte, widersprach. Nach seinem Rücktritt begann außerdem ein Hauen und Stechen um Posten und Listenplätze – da kamen mir die ersten Zweifel. Anfang 2015 bin ich dann aus der NPD ausgetreten.
Und dann gingen Sie direkt zum Aussteigerprogramm EXIT?
Nein. Ich habe zunächst versucht, allein klarzukommen, ich ging in meinen alten Beruf zurück, als Dozent in der Erwachsenenbildung. Das war die Zeit, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Ich bekam ein Angebot, Deutschkurse für Flüchtlinge zu geben. Das war für mich das absolute Schlüsselerlebnis, einerseits war es ein Sprung ins kalte Wasser, andererseits ein großes Glück. Ich weiß nicht, ob ich ohne diese Erfahrung der Mensch wäre, der ich heute bin. Für mich hat diese Zeit im Kopf den Weg frei gemacht dafür, dass ich a) Hilfe brauche und b) auch bereit bin, zu EXIT zu gehen.
Wobei brauchten Sie Hilfe?
Es bestand die Gefahr, dass ich in alte Ressentiments zurückfalle. Das habe ich in normalen Gesprächen gemerkt, beim Einordnen von Nachrichten oder eben in den Deutschkursen. Ich bin da mit großen Vorbehalten rangegangen, immer mussten mir die anderen erst beweisen, dass meine Ressentiments unbegründet sind.
Wie sah die Arbeit mit EXIT aus?
Wir haben sehr viel geredet, die Ideologie und Weltanschauung auseinandergenommen, mit Fakten und sachlicher Basis begründet, was ich vorher so nicht kannte. Wir haben meine Feindbilder analysiert, mich dann auch mit früheren „Feinden“ zusammengeführt. Ich war bei einem Vortrag eines Imams, es gab Gespräche mit Flüchtlingen, ebenso mit früheren Aktivisten der sogenannten Antifa, um sich auch mit deren Sichtweise zu beschäftigen. Dazu gab es viel Material, Filme, Bücher, Schriften, auch von Bernd Wagner (Gründer von EXIT, d. Red.) selbst.
Würden Sie sagen, dass Sie heute Ihre Vorurteile gegenüber Muslimen vollständig abgebaut haben?
Ja, ich denke, ich habe das bewältigt. Das ist ja auch ein Schwerpunkt bei der EXIT-Arbeit: Wie begegnet man Fremden? Ich bin heute völlig vorbehaltlos. Ich habe gelernt, zu differenzieren, mir verschiedene Aussagen zu einem Thema anzuhören. Vor allem stehe ich nicht mehr an dem Punkt, wo ich zu allem eine Meinung haben muss. Ich kann damit leben, auf manche Fragen keine Antwort zu haben.
Welche Rolle spielte beim Ausstieg Ihre eigene Sicherheit?
Natürlich ging es auch darum, wie ich mit der Gefahr durch alte Kameraden umgehe. Da hat mir EXIT sehr geholfen und Halt gegeben. Nachdem ich dieses Vertrauen bekommen habe, habe ich auch wieder mehr Vertrauen in die Gesellschaft generell bekommen.
Dieses Vertrauen hatten Sie vorher offenbar nicht.
Nein, überhaupt nicht. Ich habe die Gesellschaft abgelehnt, auch die Politik. Überall hat man nur Feind und Gefahr für „Volk, Familie, Vaterland“ gesehen. Ich kann aber in der Gesellschaft ja nur bestehen, wenn ich erkenne, dass sie gut für mich ist, dass Demokratie besser ist als Nationalsozialismus. EXIT hat mir deutlich gemacht, wie viel ich eigentlich selbst von der Demokratie profitiere, als Aussteiger, als jemand, der den Wunsch hat, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Im Nationalsozialismus hätte ich diese Chance nicht bekommen.
Viele Aussteiger wechseln in ein anderes Wohnumfeld ...
Das wurde mir auch nahegelegt. Am Ende entschieden wir uns aber dagegen. Ich habe Kinder und eine pflegebedürftige Mutter, daher war ein Ortswechsel kaum möglich. EXIT hat dann mit der lokalen Polizei gesprochen, einen Sicherheitsdraht hergestellt, und ich habe eine App auf meinem Handy, über die ich in bestimmten Situationen einem Betreuer meinen Standort übermittle.
Gab es denn Probleme?
Bei mir hat sich das in Grenzen gehalten, auch weil die Szene mit meinem Ausstieg tatsächlich kleiner geworden ist. Die NPD ist damals auch aus dem sächsischen Landtag geflogen, die hatten also mit sich selbst zu tun. Hetze gab es vor allem im Netz. Die alten Mitstreiter hätten es gern gesehen, dass sich jemand an meinen Sachen vergeht: Mein Auto wurde ins Netz gestellt, der Kindergarten meiner Kinder usw. Aber es ist bisher alles gut gegangen.
Profis für Deradikalisierung
Jubiläum In diesem Jahr feiert die Initiative „EXIT-Deutschland“ ihr 20-jähriges Bestehen. Gegründet wurde das Aussteigerprogramm von dem ehemaligen Neonazi Ingo Hasselbach und dem Kriminalisten Bernd Wagner. Hasselbach war in der Nachwendezeit Teil der aktiven Neonazi-Szene, stieg aber 1993 aus – nach eigenen Angaben, weil ihn die rechtsextremen Morde an türkischen Asylbewerbern schockierten. Er wurde durch sein 1993 erschienenes Buch Die Abrechnung. Ein Neonazi steigt aus bekannt. Seine Geschichte wurde unter dem Titel Führer Ex verfilmt. EXIT hat nach eigenen Angaben seit seiner Gründung über 750 Menschen geholfen, aus der rechtsextremen Szene auszusteigen. Das Projekt ist international anerkannt und vernetzt.
Zusätzlich gibt die Initiative ein Journal mit dem Titel JEX heraus, das über Extremismus und Methoden der Deradikalisierung informiert. Zum Fachkreis von EXIT-Deutschland gehören unter anderem der Politikwissenschaftler Hajo Funke und die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Finanziert wurde das Programm viele Jahre durch Spenden und Projektförderungen. Seit 2015 erhielt EXIT auch Mittel aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“. 2019 wurde bekannt, dass das Bundesfamilienministerium Kürzungen in dem Programm vornahm und Projekte zur Deradikalisierung wie EXIT ab 2020 keine Mittel mehr erhalten werden (der Freitag 42/2019).
Nach Medienberichten und Protesten wurde nun doch wieder eine Förderung bis zum Jahr 2023 zugesagt. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sagte diesbezüglich gegenüber der taz, sie schätze das Projekt. Derzeit betreut EXIT etwa 100 Menschen, die aus der rechtsextremen Szene aussteigen möchten.
Hätten Sie statt zu EXIT zum Verfassungsschutz gehen können?
Nein, der kam für mich nicht in Frage. Ich wollte ja wirklich abschließen mit dem Nazi-Dasein, ich wollte das loswerden. Beim Verfassungsschutz heißt es oft: „Ja, du kannst aussteigen, aber erst, wenn wir alle Informationen haben, die wir brauchen.“ Ich hatte die Befürchtung, dass ich dort ausgesaugt und dann fallen gelassen werde, dafür gibt es genügend Negativ-Beispiele aus der Szene.
Mittlerweile beteiligen Sie sich an der Arbeit von EXIT ...
Ja, ich bin heute eingebunden in die Arbeit gegen Extremismus. Sprich: Ich gehe an Schulen, auch zur Lehrerschaft oder zu Polizeibehörden.
Wie funktioniert die Arbeit an den Schulen?
Wenn wir Glück haben, bekommen wir zwei Schulstunden, häufig aber nur eine. Sehr oft kommen die Lehrer danach zu uns und beklagen sich, dass das viel zu kurz war. Wenn wir aber zum Beispiel beim Bundesfreiwilligendienst oder bei der Arbeiterwohlfahrt sind, wo Sozialpädagogen ausgebildet werden, da gehe ich zum Teil eine ganze Woche hin.
Wie beurteilen Sie Schulfahrten in Konzentrationslager? Bewirkt diese Erinnerungsarbeit bei den jungen Menschen noch etwas?
Ich denke schon. Ich arbeite selbst regelmäßig bei Bildungsfahrten nach Buchenwald mit. Es kommt natürlich drauf an, wie tief man in das Thema einsteigt, wir fangen schon auf der Busfahrt an, mit den Jugendlichen darüber zu sprechen. Es wäre schlimm, wenn solche Fahrten nicht mehr angeboten werden. Auch wenn es hier und da passiert, dass Jugendliche es nicht ernst nehmen und Witze machen.
Wie reagieren Sie in einer solchen Situation?
Ich konfrontiere sie mit dem Szenario: „Stell dir vor, du bist zu Hause, es bricht jemand eure Tür auf und zerrt dich und deine Eltern raus. Sie trennen dich von deinen Eltern, und du siehst sie nie wieder.“ Ich bin da sehr emotional und direkt. Wahrscheinlich auch, weil ich dazu als Aussteiger einen besonderen Bezug habe. Weil man es selbst ja sozusagen gebilligt hat, in der Vergangenheit.
Helfen Sie heute auch, frühere Straftaten aufzuklären?
Dazu muss ich sagen, dass ich außer von Journalisten nie gefragt wurde, von keiner Behörde.
Wenn man Sie gefragt hätte, hätten Sie Hinweise gegeben?
Sicher könnte ich einen Beitrag leisten, doch im Großen und Ganzen sehe ich das als Aussteiger nicht als meine Aufgabe. Die besteht für mich viel mehr darin, nicht mehr gefährlich zu sein, diese Ideologie loszuwerden und in die Gesellschaft einzutauchen. Ich denke nicht, dass man den Ausstieg nur mit irgendwelchen Deals mit Behörden schafft. Ich gehe aber jetzt im Rahmen der EXIT-Arbeit zu Kriminalisten und Polizeischülern. Die versuchen wir aufzuklären, wie die Szene funktioniert, wie Entwicklungen zu verstehen sind, wie ein Rechtsextremer eigentlich tickt.
Und wie wappnet man die Bürger dafür?
Ich finde „Community Coaching“ sehr wichtig. Das heißt, man geht in die Kommunen, analysiert die Szene, ihr Gefahrenpotenzial und schaut dann, wie man die Zivilgesellschaft dagegen stärken kann. Da geht es auch darum, mit Angeboten die Jugendlichen zu erreichen, bevor Rekrutierungsgruppen der Extremisten auf sie zugehen.
Welche Bedrohung geht Ihrer Meinung nach von der AfD aus?
Die größte Bedrohung sehe ich darin, dass die AfD den Glauben an die Demokratie erschüttert hat. Sie hat viel dazu beigetragen, dass das friedliche Klima vergiftet wurde. Sie bedient Verschwörungstheorien, etwa beim Thema Klimawandel oder aktuell bei Corona, sie versucht permanent, die Glaubwürdigkeit des Staates und der Politik zu untergraben, vor allem in den sozialen Netzwerken. Wenn du nur irgendwo im Netz mal eine bestimmte Meinung ablässt, wirst du direkt von ihnen angesprochen, und dir wird sofort eine neue Ebene geboten.
Sehen Sie die Schuld für das Anwachsen des Rechtsextremismus also vor allem bei der AfD?
Die AfD hat für rassistische Äußerungen eine Art Legalisierung geschaffen. Wenn ich mich an Demos vor fünf, sechs Jahren erinnere, da gab es noch sehr viel Gegenwehr aus der bürgerlichen Mitte. Heute sehe ich dort viele mitlaufen oder gar auf der Bühne sprechen. Die Schuld für das Anwachsen sehe ich aber auch bei anderen Parteien. Die besorgten Menschen hat man oft mit der Nazikeule niedergeschmettert. Vor allem auf kommunaler Ebene hat man auch die intelligenten Nazis viel zu lange unterschätzt, die inzwischen starke Strukturen aufgebaut haben.
Welche Kontakte haben Sie heute in die linke Szene, zur „sogenannten Antifa“?
Ich bezeichne mich selbst auch als Antifaschisten, aber nicht als „Antifa“. Bei der sogenannten Antifa sieht man ja auch Extremismus. Da gibt es vermutlich auch Aktivisten, denen es lieber wäre, wenn ich heute noch Nazi wäre, damit sie sich an mir abarbeiten können. Ich bin zum Beispiel in Kontakt mit einer Frau, die früher im Organisationsteam von „Leipzig nimmt Platz“ war. Damals war sie mein Feind, weil sie mit dem Bündnis auch unsere NPD-Demos blockiert hat. Inzwischen sind wir Freunde und arbeiten in verschieden Projekten zusammen.
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