Ein Plädoyer für das Waschen ohne nass zu werden – Gedanken zu einer neuen Ostpolitik

Außenpolitik, Geschichte Die deutsche Debatte über den Krieg in der Ukraine fliegt auf Sicht. Abseits der Frage, wie man die Ukraine am wirkungsvollsten unterstützt, bedarf es jedoch der Diskussion, wie Deutschland seine Perspektive langfristig gestalten will.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Im Februar 2022 versuchen russische Truppen die Ukraine in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen. Die beabsichtigten weiträumigen Zangenbewegungen kommen allerdings schnell ins Stocken und im Verlaufe des Jahres scheinen sich die Kampfhandlungen in der Ostukraine festzufressen. Derweil töten russische Soldaten nicht 2.000 km von Berlin entfernt tausende Zivilisten. Sie selbst kommen womöglich nicht einmal mehr in Zinksärgen nachhause, sondern werden in mobilen Krematorien zu Asche aufgelöst. Die deutsche Öffentlichkeit ist sprach- und wehrlos. Die Politik zaudert. Die Lieferung von 5000 Gefechtshelmen wird zunächst allen Ernstes als substantieller Beitrag zur ukrainischen Wehrfähigkeit deklariert. Als dann die deutsche Rüstung mit Stolz ihr Portfolio präsentiert und aus tröpfelnder Unterstützung sich ein stetiges Rinnsal an technischer Unterstützung zugunsten der Ukraine herausbildet, befehden sich deutsche Prominente und Intellektuelle mit eschatologisch anmutenden pro- und contra-Aufrufen in den Gazetten. Eine Schriftstellerin möchte komplett aus dem Diskurs „aussteigen“.

Es ist die Hilflosigkeit, die den öffentlichen deutschen Diskurs im Angesicht des Krieges prägt. Sie wird ganz wesentlich genährt durch die puristische, rigoristische Gewaltaversion der Deutschen, die aus der Sublimierung eigener Schuldkomplexe und eigener Gewaltverantwortung und -nutznießung stammt. Das „Nie wieder Krieg“ haben die Deutschen nicht metaphorisch verstanden (im Sinne von „man muss alles tun, damit zukünftig Kriege verhindert werden“), sondern als Tatsachenbehauptung verinnerlicht (im Sinne von „Es wird/darf nie wieder Krieg geben, jedenfalls werden wir uns nie wieder an einem Krieg beteiligen“). Die Phrase „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ dagegen verstehen die Deutschen überhaupt nicht im Wortsinne (im Sinne von „Stell Dir vor, es wird ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg geführt und keiner, der helfen könnte, hilft“) sondern höchst metaphorisch (im Sinne von „Stell Dir vor, alle Soldaten verlassen das Schlachtfeld“).

Ich nenne das die deutsche Gewaltvergessenheit oder besser Verleugnung, dass es menschengemachte Brutalität gibt, die uns angeht. Erst im Jahr 2010 findet das Wort „Krieg“ überhaupt wieder Verwendung im deutschen politischen Diskurs. Die Verleugnung beinhaltet zunächst die eigene Geschichte: es grassiert in Deutschland zuallererst die Nazivergessenheit. Die Jahre 1933 bis 1945 werden mittlerweile im eigentlichen Sinne als Fremdherrschaft begriffen. Als ob sich ein fremder Volksstamm (der ominösen „Nazis“) der Deutschen bemächtigt hätte. Konsequenterweise klammern wir uns an das rettende Narrativ des Tages der „Befreiung“, an dem wir dann endlich von der nationalsozialistischen „Fremdherrschaft“ befreit wurden. Diese Verdrängung schließt die offensichtliche Tatsache ein, dass es unsere Großväter und Väter waren, mit denen wir so friedlich unter dem Weihnachtbaum saßen, die Millionen von u.a. sowjetischen Soldaten (und Zivilisten) erschossen haben und Millionen von Juden in Tötungsfabriken industriell gegen ihren deutlich erklärten Willen vom Leben zum Tode befördert haben und dabei durch die Europa aussaugende deutsche Kriegswirtschaft ein im Durchschnitt doch relativ komfortables Zuhause für unsere Eltern und letztlich uns geschaffen haben.

Diese Verdrängung und Tabuisierung unseres eigenen Herkommens und unserer eigenen mittelbaren Nutznießung führt in Deutschland dazu, dass man zwar abstrakt von Gewalt redet, aber verdrängt, dass Brutalität von Menschen ausgeht. Menschen wie Du und ich oder zumindest Menschen wie unsere Großväter und Väter. Spricht man nun zwar in Deutschland auch wieder von „Krieg“, so verschleiert man ihn doch sogleich wieder. Man spricht nämlich davon, dass wieder Krieg herrsche in Europa. Diese Personifikation ist allerdings nicht richtig. Krieg „herrscht“ nicht. Er wird geführt. Ein Krieg ist nie für sich selbst da, er entsteht aus den Handlungen der Menschen. Aus diesem Grunde kann man sich auch jenseits der Flucht in die Metaphorik nicht vorstellen, es wäre Krieg und keiner ginge hin. Wenn nämlich Krieg ist, sind notwendigerweise Menschen involviert. Und wenn dann nun keiner hingeht, dann ist der Krieg trotzdem da. Nur geht dann halt keiner hin. Man überlässt dann die Kriegführenden sich selbst.

Wir müssen also weg von dieser verschleiernden und verharmlosenden Terminologie. Sie wiegt uns in der Illusion, dass so lange wir nicht selbst im Krieg sind bzw. „nicht hingehen“ nicht vom Krieg betroffen seien. Das ist ein klassisches Kopf in den Sand stecken. Es ist nicht die eigene Entscheidung, ob man Krieg führen will, oder nicht. Auch die Ukrainer wollten keinen Krieg führen. Womöglich wollen dies sogar viele Russen nicht. Andersherum wird der Krieg nicht nur deshalb nicht zu uns kommen, weil wir uns weigern, ihn zu akzeptieren. Wir müssen uns also zunächst klar machen, dass Krieg nicht „herrscht“, sondern konkret und von Menschen geführt wird und sodann müssen wir akzeptieren, dass Krieg geführt wird, ob wir es wollen oder nicht. Und schließlich müssen wir uns die Frage stellen, wo wir selbst im Krieg stehen wollen. Ob wir ihn wollen oder nicht.

Dabei hilft kein moralisch-historischer Eskapismus im Sinne von „es soll Frieden herrschen“. Wenn der Krieg nicht „herrscht“, so tut es der Frieden schon gar nicht. Weiterhin müssen wir den Tatsachen ins Auge blicken. Wir können nicht so tun, als vollziehe sich der Krieg in einer anderen geographischen oder kulturellen Sphäre als der unseren, im Sinne des Goetheschen Gesprächs von Krieg, wenn hinten, weit – in diesem Fall in der Ostukraine – die Völker aufeinander schlagen. Die folgenden Sätze werden manchen Leser verstören, aber – ich kann mir nicht helfen – sie sind wahr: Kein Land der Welt hat mehr Erfahrung in der Kriegsführung gegen russische und ukrainische Soldaten als Deutschland, kein Land der Welt hat mehr Erfahrung im Töten von russischen und ukrainischen Soldaten als Deutschland, kein Land der Welt hat einen höheren Blutzoll gezahlt im Krieg gegen russische und ukrainische Soldaten als Deutschland. Und bitte keine Ausflüchte: es waren nicht die „Nazis“, die die Ukraine und Russland überfielen und zu blood lands verwandelten. Es waren die Deutschen. Kein Land der Welt als Deutschland hätte daher auch die historische Verpflichtung, richtig zu stellen, dass Haufen von testosteronübersteuerten Nationalisten keine Nazis sind. Hingegen waren dies unsere Väter und Großväter. Und wir haben eine Menge von ihnen geerbt. Als Erbe kann man sich nicht einzelne Gegenstände herauspicken. Es herrscht das Prinzip der Universalsukzession.

Warum also weigern wir Deutsche uns, vor diesem Hintergrund im innerdeutschen Diskurs eine historische Verantwortung zu übernehmen und strategische Interessen zu formulieren, die diesen Tatsachen gerecht werden? Warum wollen wir so offensichtlich mit diesen Tatsachen nichts zu tun haben? Warum reden wir lieber darüber, was Russland nicht tun sollte und was die Ukraine besser tun sollte, als darüber, was eigentlich unsere Verantwortung, Ziele und Handlungsoptionen in einer unsicheren Welt sind, in der ein Wiedergänger der Diktatoren des 20. Jahrhunderts sein Nachbarland überfällt, das auf Platz 122 (von 180) des Weltkorruptionsindex steht? Warum haben die Grenzen, die in Reaktion auf die Angriffskriege unserer Väter und Großväter gezogen wurden, heute offenbar keinen Bestand mehr? Warum nehmen wir hin, dass unser historischer deutscher Nationalsozialismus zum Fetisch russischer Aggression pervertiert wird? Etwas drastischer formuliert: Warum haben wir Abermillionen von Russen und Ukrainern getötet und Millionen deutsche Soldaten in Russland und der Ukraine geopfert, um jetzt so zu tun, als ginge uns dieser Raum nichts mehr an, als würde daraus keine Verpflichtung erwachsen, eine substantielle deutsche Ostpolitik zu formulieren abseits eines naiven „Nie wieder Krieg“?

Was wir in Deutschland ganz offensichtlich benötigen, ist mehr Realismus. Realismus in Bezug auf die eigene Geschichte und Realismus in Bezug auf menschengemachte Gefahr und Brutalität, die nur durch eigenes Handeln – das notwendigerweise weh tun wird – bekämpft werden kann. Wir benötigen also eine realistische Gefahren- und Vergangenheitsanalyse. Es muss um die Frage gehen: „Wie bewerten wir unsere deutschen und europäischen Sicherheitsinteressen angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, der von der Russischen Föderation gegen die Ukraine geführt wird, also in Räumen, die bereits von Deutschland durch totale Kriegsführung beansprucht wurden?“ Es geht in erster Linie daher nicht um die Frage von Sieg oder Niederlage einer der kriegführenden Parteien, auf die wir – solange wir uns nicht entschließen, in den Krieg einzutreten – ohnehin nur mittelbaren Einfluss haben. Es geht nicht um ein abstraktes Gerede von anderer Menschen Krieg und Frieden, sondern um die Realisierung von Gefahren- und Verantwortungsgraden und -potentialen für uns selbst und entsprechende Ziel- und Handlungsszenarien.

Dies ist eine strategische Selbstverortung. Es stellt sich also uns Deutschen die Frage, wie wir uns selbst angesichts des „herrschenden“ Krieges positionieren wollen. Wohlgemerkt und auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: wo wir uns verorten wollen und nicht die Ukrainer oder die Russen. Es kann in unserem Diskurs nicht um abstrakte Wortklaubereien gehen, ob die Ukraine nicht verlieren oder Russland nicht gewinnen darf. Es geht auch zunächst nicht darum, wie wir am besten Handeln könnten, um etwa die ukrainische Kriegsführung am effektivsten unterstützen könnten („mehr bzw. weniger Panzerhaubitzen?!“). Bevor wir handeln und etwa die Ukraine unterstützen wollen, müssen wir uns zuallererst vergegenwärtigen, was eigentlich unsere Ziele für Deutschland und Europa sind und wie wir diese erreichen wollen.

Was also sollen wir tun im Angesicht des Krieges? Natürlich könnten wir einfach gar nichts tun, uns also vorstellen, das zwar Krieg ist, aber nicht hingehen. Am anderen Ende der Skala stünde die ultimative Option des Kriegseintritts gegen die Russische Föderation. Diese beiden Extrempositionen werden zwar tatsächlich zuweilen vertreten, bilden jedoch glücklicherweise nicht die deutsche Mehrheitsmeinung ab. Diese ist wohl eher: Wir wollen zwar nicht da hingehen wo „Krieg herrscht“, aber gewinnen darf Russland trotzdem nicht. Dass dies ein Waschen ohne nass zu werden ist, dürfte recht einleuchtend sein. Dies halte ich allerdings nicht per se für verwerflich. Verwerflich wäre es nur, wenn man handelte, ohne zu wissen warum. Ein Waschen ohne nass zu werden könnte nämlich tatsächlich funktionieren. Das ist zwar nicht elegant und auch nicht besonders angenehm aber – um im Bild zu bleiben – es gibt nicht-flüssigkeitsbasierte Reinigungsverfahren wie die chemische Trockenreinigung. Was will ich damit sagen? Es geht um technisch-strategische Interessenformulierungen in der Grauzone der internationalen Realpolitik. Diese denkt nicht in den historischen heutzutage eher symbolisch gewordenen Kategorien von Krieg und Frieden (man denke nur an die absurde Weigerung des offiziellen Russlands, den Krieg als Krieg zu bezeichnen) oder Sieg und Niederlage, sondern in differenzierten Bedrohungs- und Risikopotentialen und in Reaktionsmöglichkeiten und -fähigkeiten darauf.

Das Waschen ohne nass zu werden ist daher auch realistisch, weil es in der Geschichte und internationalen Politik kaum um eine mathematische richtige oder falsche Lösung geht. Geschichte und Politik sind keine Nullsummenspiele, die sauber in binären Kategorien von Sieg oder Niederlage aufgehen. Diese quasimathematische Logik verkennt die Wirklichkeit. Insbesondere kann es auch nicht darum gehen, Putin vorzurechnen, was er „falsch“ gemacht habe, oder dass es völlig sinnlos sei, was er macht. Dies wird ihn vermutlich Nullkommanichts interessieren und seiner Aggression lediglich die Behauptung eines philosophischen Kategorienfehlers entgegensetzen. Man muss seine Narrative „Großrussland“ und „nahes Ausland“ nolens volens ernst nehmen und ihm ein eigenes Narrativ entgegen setzten. Das setzt aber voraus, dass man dieses überhaupt erst definiert hat. Putin wird sich nicht dadurch überzeugen lassen, dass er seine eigenen „Fehler“ einsieht. Es kann also nicht darum gehen, Putin zu verstehen oder zu belehren. Es kann auch nicht darum gehen, seiner Aggression ein bloßes contra entgegen zu setzen. Es muss vielmehr darum gehen, eigene Ziele, eigene Narrative zu formulieren. Was wollen wir in Osteuropa erreichen? Wie wollen wir es erreichen? Was sind wir bereit einzusetzen? Haben wir die möglichen Auswirkungen und Risiken kritisch hinterfragt? Wie werden wir unserer historischen Verantwortung in Osteuropa gerecht? Wie wollen wir zukünftig mit der Ukraine, mit Russland und mit den anderen Staaten Europas leben? Das sind Fragen einer Diskussion, die geführt werden muss. Ich vermute, dass die Antworten nicht leicht auf der Hand liegen. Wenn sie technisch und wenig heroisch erscheinen sollten und etwa in Abstufungen von Grau, ein Waschen ohne nass zu werden, dann dürfte dies pragmatisch und realistisch sein. So wie das richtige Leben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Schirmer

Professor für öffentliches Recht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in NRW.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden