Herr Haller, warum haben Sie so ein gutes Buch geschrieben?
Ich habe versucht, so genau, wie es mir möglich ist, den Stoff zu einer sprachlichen Wirklichkeit umzuschaffen, die allein durch die Wörter und Sätze lebt – nämlich, wie ein junger Mensch seinen Weg findet, den es weder gesellschaftlich noch familiär vorgezeichnet gibt, für den zu gehen, er sich jedoch berufen fühlt.
Zur Person
Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Aargau geboren. Er studierte Zoologie an der Universität Basel und verantwortete dann die Sichtung und Verfilmung des Werks des schweizerischen Philosophen und Schriftsteller Adrien Turel. Es folgte eine Tätigkeit als Bereichsleiter am Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon. 2015 wurde Haller mit dem „Kunstpreis des Kantons Aargau“ ausgezeichnet. Haller lebt als freier Schriftsteller in Laufenburg, Schweiz
Das Glück schreibe mit weißer Tinte, sagte mal jemand. Woher kommt Ihre Motivation zu schreiben?
Mit neunzehn, in einer für mich damals schwierigen Situation, kamen Wörter unaufgefordert zu mir, wollten niedergeschrieben sein, und es entstand mein erstes Gedicht. Seit diesem Schlüsselerlebnis habe ich täglich geschrieben. Ich brauchte keine Motivation, denn das Schreiben erwies sich als eine Notwendigkeit, der ich folgen musste. In gewissem Sinn war der Prozess des Schreibens unabhängig von meinem Wollen und Wünschen.
Sie legten jetzt den zweiten Teil Ihrer autobiographischen Trilogie bei Luchterhand vor. Warum überhaupt autobiographisch?
Weil ich von dem ausgehe, was ich am besten kenne, meinen Erfahrungen, meinen Erinnerungen, meinen vielfältigen Suchbewegungen in einer Welt, die ich schwer lesen und verstehen konnte. Doch „autobiographisch“ ist auch missverständlich. Es geht mir um keine Lebenserzählung, um keine panoramische Sicht auf siebzig Jahre Christian Haller. Wen sollte das interessieren? Ich versuche, die geistigen Einflüsse, Anregungen, Anstöße durch Begegnungen aus dem alltäglichen Leben herauszupräparieren: Wie kommt der Protagonist zur eigenen Sprache, zu den unverwechselbaren Stoffen, zu seinem Stil?
Der Weg zum Schriftstellerdasein Ihres alter ego ist lang und beschwerlich. Erst will er einer Autorenwitwe beim Nachlassverwalten helfen, dann studiert er Naturwissenschaft, kommt in sexuelle Bedrängnis und Verwirrung und landet dann in den Mühlen eines international tätigen Institutes, welche Niklas Luhmann Theorien bestätigen. Kann eine Autobiographie wirklich ein Leben abbilden und ist das Ihr Leben?
Erstens ist das Abbilden eines Lebens unmöglich, und zweitens auch nicht wünschenswert. Literatur ist nicht Abbild, sondern Schöpfung, Sprachkunstwerk. Abbild würde die Illusion vorgeben, das Geschilderte sei das Gewesene. Doch dieses Gewesene gibt es nicht, nicht in dieser Form. Ich treffe nach einem bestimmten Aspekt – der éducation mentale – eine Auswahl bestimmter Ereignisse, die für den Weg wichtig gewesen sind. Diese erinnerten Eriegnisse aber werden auch immer gegenwärtig erinnert. Durch die Hirnforschung wissen wir heute, dass eine Erinnerung, die aufgerufen wird, nie wieder gleich abgelegt wird. Erinnerungen sind dynamisch, nehmen auch fremde Elemente auf, formen sich stets weiter. Ihre Umsetzung in Sprache löst sie vollends vom Privaten ab, verdichtet sie, rhythmisiert sie, schafft die Klang- und Assoziationsräume, die der Leser für sich öffnet.
Sie nennen alle Menschen beim Klarnamen – gibt das keinen Ärger?
Ich hoffe nicht, auch weil ich keine der Figuren beurteile oder gar denunziere. Mein Schutz der Personen ist Respekt. Mich interessieren keine Schwarz-Weiß-Schemen, sondern Differenzierung, und selbst bei Menschen, die negativ auf mich eingewirkt haben, finde ich Fragen, was sie dazu gebacht hat und was dadurch ausgelöst worden ist, interessanter zu untersuchen, als Vorwurf oder Herabsetzung.
Macht Ihnen die Vergänglichkeit, sprich das unaufhaltsame Fließen der Lebenszeit, Angst?
Ich wohne am Fluss, schaue täglich auf den Rhein, der an meinem Haus vorbeifließt. Vergänglichkeit, wie auch das Vergessen, haben auch etwas Erlösendes. Dass auch ich vergehen werde und mit mir alles, was ich erreicht, gedacht und geschaffen habe, ist eine Tatsache – die, wenn ich daran denke, ein Skandal ist.
Wie haben Sie sich erinnert: führen Sie Tagebücher, Notizen?
Ich habe, wie ich sagte, mein Leben lang täglich geschrieben. In meinem Archiv (heute im Schweizerischen Literaturarchiv Bern) gibt es Aufzeichnungen, Notizen, Tagebucheinträge, Romanentwürfe, Erzählungen. Dieses Material brauche ich jedoch lediglich zur Vergewisserung bei Unsicherheiten. Ich verlasse mich auf meine Erinnerungen, und die sind sehr intensiv, reichen bis in ganz frühe Jahre zurück, sind bildhaft, von starken Empfindungen und Stimmungen geprägt. Und im Prozess des Schreibens lösen sich auch Stücke aus Schichten, die mir nicht mehr gegenwärtig waren.
War es ein seelischer Kraftakt das Erlebte erneut zu erleben?
Ja. Es geht mir nicht darum, etwas äußerlich zu beschreiben. Ich wollte und musste hineingehen, nochmals hindurchgehen, das Erlebte aus seiner Mitte, aus dem Inneren der Ereignisse heraus, zur Sprache zu bringen, und das bedeutet, es nochmals und doch auch wieder anders erleben.
Wie fühlt sich die Retrospektive an?
Es mag seltsam, etwas abwegig klingen, doch heute erscheint mir dieser Weg, den ich gegangen bin, steiniger und riskanter, auch von Abgründen bedrohter, als damals, als ich ihn gehen musste.
Welche Entscheidung bedauern Sie?
Ich glaube bei der Lektüre spürt man, dass der Protagonist keine Entscheidung hat, er folgt dieser „Ahnung“, von der er nicht genau weiß, wohin sie ihn führt. Oftmals genügt ein Satz, um ihn auf ein völlig unvorgesehenes Wegstück zu bringen. Denken Sie an die Szene, in der ein ehemaliger Schulkollege zu ihm sagt: Du musst Biologie studieren! Und obwohl er nie studieren wollte, spürt er, wie dieser Satz eine Tür aufstösst, durch die er gehen wird.
Es folgt der dritte und letzte Band. Pippa, Ihre motivierende, frische Freundin, erfährt einen Schicksalschlag, der Sie beide bis heute begleitet. Können Sie uns das jetzt schon genauer umreißen?
Nein, denn ich stecke mitten in der Arbeit, und es mag etwas kapriziös sein, doch ich konnte und wollte nie über eine Arbeit reden, an der ich sitze, die nicht abgeschlossen ist. Nicht aus Geheimniskrämerei, sondern um nichts vorweg zu formulieren, was erst noch geschrieben werden muss. Doch Sie haben recht, es war eine das Leben vollständig umstürzende Katastrophe.
Wann kommt das dritte Buch?
Ganz sicher, wenn es fertig ist.
Info
Das unaufhaltsame Fließen Christian Haller Luchterhand 2017, 256 Seiten, 22 Euro
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