Die Solidarność lebt. Sie ist wieder auf den Plätzen Polens zu finden. Ob es nun landesweit 70.000 oder gar 150.000 Menschen sind, die an diesem Sonntagabend protestieren, ist zweitrangig. „Wir sind jetzt alle eine große Vereinigung“, ruft Agata Otrębska zu den rund 2.000 Menschen, die sich vor dem Kommunalgericht im südpolnischen Kattowitz versammelt haben. Das Gericht gehört zu jenen, die unter der Obhut des Obersten Gerichts stehen, das unter die Räder der Machthungrigen zu geraten droht.
Otrębska hat ihre Ansprache gut vorbereitet. Sie hat Erfahrung in der Organisation von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Sie gibt den Zuhörern Hinweise, welche Argumente sie gegen das brachiale Vorgehen der Mannschaft rund um Jarosław Kaczyński vortragen könnten. „Ihr könnt die PiS-Wähler fragen, ob sie sich die gleiche Justizreform auch dann wünschen würden, wenn sie von der Vorgängerregierung durchgeboxt werden würde – inklusive der politischen Unterordnung der Richter, natürlich nach deren Vorstellungen.“
Während Otrębska spricht, projiziert einer ihrer Mitstreiter per Beamer Artikel der polnischen Verfassung an die Gerichtsfassade. „Richter sind unkündbar“, heißt es in Artikel 180. Genau dieser Artikel steht dieser Tage in Polen zur Disposition. Denn drei Gesetze der PiS-Regierung sollen dieses ermöglichen. Die Gesetze lagen über das Wochenende zum Unterzeichnen auf dem Tisch des Staatspräsidenten.
Andrzej Duda, ein Ziehsohn Kaczyńskis, hatte 21 Tage Zeit, um über seine Unterschrift nachzudenken. Er brauchte nur drei. Am Montag verkündet Duda sein Veto – und versetzt seine Partei in Schockstarre. Zwei der drei Novellen werde er nicht annehmen, sagt der Präsident vor den überraschten Pressevertretern. Er legt sein Veto gegen das Gesetz zum Obersten Gericht und jenes zum Landesgerichtsrat ein. Er werde in den nächsten Monaten selbst eine entsprechende Gesetzesinitiative starten. Der Sejm kann die von Duda verhinderten Novellen mit einer 3/5-Mehrheit überstimmen – was aber als unwahrscheinlich gilt.
Und ja, die Proteste auf den Straßen hätten auf ihn Eindruck gemacht, sagt Duda. Immer deutlicher war in den vergangenen Tagen zu sehen, dass die Protestler ein breites Spektrum der Gesellschaft repräsentieren. Auch viele Junge haben sich beteiligt. In Kattowitz sagt der Jurastudent Paweł Kabat: „Wir müssen unserer Elterngeneration gegenüber eine Schuld begleichen.“ Was heißt das konkret? „Dass wir erhalten müssen, wofür sie einst gekämpft haben.“
Seine Kommilitonin Klaudia Trzęsimiech skandiert jeden Schlachtruf mit, der angestimmt wird. Sie sagt, sie rede im Bekanntenkreis viel über die aktuelle Situation. An der Uni und in ihrem Fachbereich, sagen beide Studierenden, seien die meisten gegen die Reformen – auch die Lehrenden.
Doch die Tatsache, dass sich so gut wie alle Juristen-, Anwalts- oder Richtervereinigungen gegen die Pläne der Regierung aussprachen, spielt für die PiS keine Rolle. Im Gegenteil. Ganz gleich, welcher Akteur seine Kritik vorträgt, er ist in der Darstellung der PiS-Politiker Teil eines diffusen Netzwerks, das gegen Polen arbeite und letztlich die Notwendigkeit der Reformen bestätige. Außenminister Witold Waszczykowski formuliert das in einem Interview so: „Wir haben es mit Versuchen zu tun, die Regierung zu stürzen. Die Frage der Gerichte ist nur ein Vorwand. Dahinter steht das große Geld und Einfluss – Medienkonzerne, Banken und internationale Konzerne.“ Dieses Verschwörungsdenken ist typisch für die Begründungen, die die PiS ihren Anhängern für den stetigen Gegenwind gibt.
Präsident Duda wagte den wohl bislang wichtigsten Ausbruch aus diesen Denkkategorien, auch wenn er eine der drei Justiznovellen unterschreiben wird. Es ist ein nüchtern kalkulierter Schritt, vor der eigenen Wählerschaft nicht vollends als Vollstrecker der Forderungen der Opposition und der Straßen dazustehen. So kann die Regierung einen Teil ihrer Vorhaben umsetzen. Weil aber die ordentliche Gerichtsbarkeit dem Obersten Gericht als höchster Instanz untersteht, ist das Veto des Präsidenten gegenüber den beiden anderen Novellen bedeutender. Es nimmt dem von Duda genehmigten Gesetz die Schärfe.
Die Erfahrungen der Diktatur
„Solidarność! Solidarność!“, rufen die Kattowitzer am Sonntag. Neben polnischen Fahnen werden europäische hochgehalten, auch die bunte LGBT-Fahne ist dabei. Die Menschen singen, klatschen und halten Kerzen hoch. Eine der Kerzen brennt in der Hand einer älteren Frau. „Wir sind hier, damit wir keine Diktatur bekommen, denn das hatten wir schon. Ich kann mich noch an den Kriegszustand von 1981 erinnern und an die Proteste“, sagt sie.
Aber längst nicht alle Polen sehen das so. Die staatlichen Medien, regierungsnahe TV- und Radio-Sender, Printmagazine und Onlineportale zeigen eine völlig andere Welt. „Polen ist Objekt einer massiven Desinformation“ – „Die Frechheit der Deutschen kennt keine Grenzen! Der deutsche Justizminister droht Polen mit Isolation“. Oder: „Das Jaulen der einsamen (Richter-)Kaste“. Dass die Richter eine „besondere Kaste“ seien, deren Zeit ablaufe, sagt auch Justizminister Zbigniew Ziobro immer wieder. Der geschmeidige Ziobro würde durch die neuen Gesetze zum mächtigsten Justizminister der EU mutieren. Dass Kaczyński die Gesetze just auf ihn zuschneiden ließ, ist ein Hinweis darauf, dass er ihn als potenziellen Nachfolger sieht.
Wegen dieser Pläne war die Situation im Land vor Dudas Entscheidung angespannt wie seit dem PiS-Regierungsantritt vor knapp zwei Jahren nicht mehr. Das Wort „Majdan“ tauchte häufiger auf. Als die Kattowitzer Kundgebung am Sonntag zu Ende geht, dankt die Organisatorin der Polizei für die Sicherheit, für die sie gesorgt habe. Die Teilnehmenden klatschen laut. „Ich schätze diesen Geist, der hier herrscht“, sagt Protestteilnehmer Daniel Rolnik, 41 Jahre. „Die Menschen wollen zusammen sein, das ist so eine gute Solidarität.“
Tatsächlich hat der Geist der Solidarność dieser Tage sein Potenzial entfaltet – und einen Etappensieg errungen. Als Duda sein Veto begründet, schlägt er einen Bogen zur Solidarność-Tradition. „Frau Romaszewska sagte mir Worte, die mich am stärksten bewegt haben“, sagt Duda. Zofia Romaszewska ist seine Beraterin – und eine Ikone der Widerstandsbewegung, die in den 1970er Jahren zur Keimzelle der Solidarność-Bewegung gehörte, später mit dem höchsten Verdienstorden ausgezeichnet wurde und heute PiS-Anhängerin ist. Sie sagte, sie habe bereits in einem Land gelebt, in dem der Generalstaatsanwalt alles gedurft habe. Und fügte hinzu: „Ich will nicht erneut in so einem Land leben.“
Dass Kaczyński keinen Kompromiss suchen will, aus dem eine auch für die Opposition und Straßenprotestler annehmbare Justizreform herauskommen würde, machte PiS-Regierungschefin Beata Szydło noch am Montag klar. In einer Ansprache hielt sie an den harten Plänen fest: „Wir dürfen uns der Straße und dem Ausland nicht beugen.“ Im Regierungslager macht sich nach Dudas Wende aber Nervosität breit, gemäßigtere PiS-Konservative könnten sich um Duda scharen und so zu einem Bruch in der PiS-Fraktion beitragen. Die Proteste gegen die Justizreform gehen indes weiter, der Geist der Solidarität scheint sich dauerhaft einzunisten. Denn die Regierung sucht auch Wege, mit denen unabhängigen Medien und Nichtregierungsorganisationen die Zügel weiter angelegt werden könnten. Ein heißer Herbst in Polen kündigt sich an.
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