Deutschland, einig Herkunftsland

Bundespräsident Joachim Gauck wirft in seiner Antrittsrede einen tiefen Blick zurück in die westdeutsche Geschichte. Doch um ein Präsident des 21. Jahrhunderts zu werden, braucht er Mut

Es gibt sie doch: die Kraft der Rede. Als Joachim Gauck im Sitzungssaal des Reichstagsgebäudes vor den Mitgliedern des Bundesrates und Bundestages vereidigt wurde und als er dann zu einer mit großer Spannung erwarteten, knapp 20-minütigen Antrittsrede anhob, war diese Kraft der Rede von Beginn an zu spüren. Gerade weil Gauck für seine Verhältnisse nüchtern blieb und nicht pathetisch wurde. Woher diese Kraft allerdings stammt, kann man gar nicht sagen. Christian Wulff verfügte zu keinem Zeitpunk über sie, auch wenn er in seiner kurzen Amtszeit ab und an richtige Sätze gesagt hat. Wenn der ehemalige Rostocker Pastor Gauck jedoch spricht, dann spürt man diese Kraft, die man nur im richtigen Leben und nicht in Parlamentsdebatten lernt. Insofern spürte man an diesem Morgen auch eine Aura der Straße im Sitzungssaal.

Dabei redete der elfte Bundespräsident als ein Mensch des 20. Jahrhunderts. Noch einmal nahm er bezug auf beinahe alle großen Daten der deutschen Geschichte. Er sprach von Krieg und Zerstörung, von der deutschen Teilung, dem Schicksal der Vertriebenen und natürlich von der friedlichen Revolution 1989. Die Wege und Umwege allerdings, die er dabei nahm, muteten mitunter verschlungen an. Seine Antrittsrede stand unter dem Eindruck der Kritik der letzten Wochen an seiner Person. Zum Leben in der DDR und zur Bürgerbewegung vor 1989 verlor er keine großen Worte. Sein Freiheitsbegriff gründet sich demnach auf ein Vakuum.

Ein langer Weg bis 1989

Stattdessen widmete er sich beinahe ausschließlich der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, die er einerseits als die Ära des Wirtschaftswunders, andererseits als „Demokratiewunder“ bezeichnete. “Ich empfinde mein Land vor allem als ein Land des Demokratiewunders“, sagte er. Überraschend war seine starke Betonung der 68er Bewegung, die nach dem Mauerfall dann auch „richtungsweisend für unsere Aufarbeitung nach 1989“ gewirkt habe. Wie stark jedoch die westdeutsche Friedensbewegung der achtziger Jahre auch in der DDR nur mit kurzer Verzögerung Widerklang fand und sich gerade unter dem Dach der sozialistischen Kirche versammelte, davon hätte Gauck reden müssen.

Von 1945 über 1968 bis ins Jahr 1989 war es doch ein langer Weg. Als erster ostdeutscher Bundespräsident steht Gauck in der Verantwortung, die Geschichte beider deutscher Staaten nicht nur in Abgrenzung voneinander zu beschreiben, sondern eher die gegenseitige Einflussnahme und Bedingtheit zu erzählen. Das wäre der Beginn einer gemeinsamen historischen Herkunftserzählung. Und eine tatsächliche Zäsur.

Teilhabe und Aufstiegschancen

Joachim Gauck hat in seiner Rede versucht, vorherige Positionen zu korrigieren. Er hat aus den Debatten der letzten Wochen also durchaus gelernt. Nun stellt er den Begriff der Freiheit zumindest gleichberechtigt neben den der Gerechtigkeit. Das linke Lager, deren Kandidat Gauck ja auch war, darf aufatmen. „Freiheit ist eine notwendige Voraussetzung für Gerechtigkeit“, hieß es an einer Stelle. Und: „Gerechtigkeit ist unerlässlich für die Freiheit, denn nur die Gerechtigkeit kann Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar machen.“

Dennoch: Über Teilhabe und Aufstiegschancen zu sprechen, ohne darauf zu verweisen, dass die sozialen Verwerfungen in der Gesellschaft in den letzten Jahren immer stärker zugenommen haben, dass die Schere zwischen Arm und Reich weit und weiter auseinanderklafft, dass soziale Herkunft noch nie so zwingend entscheidend für den späteren Aufstieg war und dass die jüngsten Krisen an den Kapitalmärkten keiner europäischen Regierung Anlass war, entscheidend umzudenken – all diese Positionen, die heute weit in der Mitte der Gesellschaft konsensfähig sind, sie erforderten von einem Konsenskandidaten, wie Joachim Gauck einer sein möchte, eigentlich keinen großen Mut. Ob er diesen Mut aufbringt, ist die entscheidende Frage. Erst dann kann dieser Mann des 20. Jahrhunderts auch ein Bundespräsident des 21. Jahrhunderts sein.

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