Sofi Oksanen ist eine Archäologin: Mit hochgekrempelten Ärmeln lenkt sie den Blick auf Verschüttetes, Verborgenes und Verschwiegenes. Als stünde sie an einem Ausgrabungsort, der Rückschlüsse auf die Menschheitsgeschichte zulässt, aber auch auf das Menschsein. Viele ihrer Prosatexte spielen in der Vergangenheit, rückwärtsgewandt sind sie dabei jedoch nie; vielmehr schreibt die finnische Autorin von Wendepunkten der Geschichte, die in die Gegenwart verweisen.
Die Texte der 1977 im mittelfinnischen Jyväskylä Geborenen sind also unbedingt politisch, das hat schon ihr erster Roman Fegefeuer gezeigt. Ihr Engagement geht aber weit über ihr literarisches Schaffen hinaus. Oksanen mischt bei politischen Debatten mit, bezieht Position, etwa für Feminismus und Frauenrechte. Zuletzt übte sie offen Kritik an der Politik von Wladimir Putin. Nach der Annexion der Krim im Juni hielt sie eine Rede im Parlament der Tschechischen Republik, in der sie die russische Machtpolitik analysierte, Parallelen zur Rolle der Medien in der Sowjetunion zog und darlegte, weshalb Putin für die osteuropäischen Länder eine enorme Bedrohung darstellt: „Die Zeit zwischen den Kalten Kriegen ist vorüber“, hieß es in einem Essay. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse wirken Oksanens Worte vorausblickend.
Diese Wachheit hängt mit ihrer Herkunft zusammen: Sofi Oksanens Mutter stammt ursprünglich aus Estland; von ihr hat sie die estnische Sprache gelernt. Auch in ihren Romanen verarbeitet sie ihre Herkunft, jedoch nicht eins zu eins. Oft sind darin autofiktionale Bezüge zu finden, Überschneidungen zwischen Erlebtem und Geschriebenem, Fakt und Fiktion.
Nun also erscheint Sofi Oksanens dritter Roman auf deutsch. Wie in ihrem mit bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichneten Roman Fegefeuer ist auch in Als die Tauben verschwanden die Geschichte Estlands der Motor, der die Handlung vorantreibt. Oksanens scharfsinnige und doch stets poetische Annäherung an die Vergangenheit hat indes wenig mit dem sonst gängigen Verständnis von Geschichte gemein. Die Chronologie der Ereignisse ist nicht das Eigentliche. Es geht nicht um eine lineare Auffassung von Geschichte, sondern um ihre Wiederholung; Vergangenheit und Gegenwart, die jüngere und die weniger junge Geschichte greifen ineinander, berühren sich.
Der Roman folgt dabei seinen Protagonisten Juudit, ihrem Mann Edgar und dessen Ziehbruder Roland durch zwei Epochen. Zum einen spielt er während des Zweiten Weltkriegs, als Estland zunächst zur Sowjetunion gehörte und im Winter 1941 von deutschen Truppen besetzt wurde. Zum anderen in den 60er Jahren und damit in der Zeit der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ESSR).
Dabei interessiert weniger, was diese politischen Systeme voneinander unterscheidet, als vielmehr ihre Parallelen. Oksanens Figuren sind den Ereignissen nie vollkommen ausgeliefert, so repressiv sie auch auf sie einwirken mögen. Der Roman versagt sich den fatalistischen Blick. So ist Roland von der Idee eines freien, unabhängigen Estlands so überzeugt, dass ihn diese Überzeugung am Leben hält, als seine Frau Rosalie in den Wirren der Besatzung ermordet und hastig bestattet wird, ohne dass der Täter ausfindig gemacht wird.
Korruption und Intrige
Seine ethische Haltung drängt Roland dazu, in den Untergrund zu gehen. Edgar ist nicht nur Rolands charakterlicher, sondern auch sein ideologischer Gegenpart: Er schlägt sich auf die Seite der Macht, passt seine Identität den jeweiligen Umständen an, ein unmoralischer Mensch. Während Roland in der Peripherie bleiben muss, drängt es ihn ins Zentrum. Unter falschem Namen handelt er so grauenhaft, dass es einem eiskalt wird beim Lesen. Ohne Rücksicht auf seine Familie biedert er sich zunächst bei den deutschen Besatzern an, um nach dem Krieg auch in der ESSR eine zweifelhafte Karriere zu machen, und zwar ausgerechnet, oh Ironie, als allzu systemtreuer Schriftsteller.
Juudit durchbricht dieses auf den ersten Blick binär erscheinende Konstrukt ungleicher Brüder: Sie ist nicht weniger berechnend als Edgar, oftmals hellsichtiger als er. Anders als ihr Ehemann unterschätzt sie jedoch nicht, dass auch Ethik und Moral wirkmächtige Triebfedern sind. Auf welcher Seite sie steht, in welchem Interesse sie handelt, ist eine der großen Fragen des Romans. „Sie war zufrieden, denn sie wollte nicht mehr wissen als unbedingt nötig“, heißt es an einer Stelle über Juudit. Diese Art von Zufriedenheit hat einen bitteren Beigeschmack; Juudit bekommt sie nicht geschenkt. Zum Glück sind die Figuren in Oksanens Romanen jedoch weit komplexer, als sie einen glauben machen wollen. Es wird manipuliert und instrumentalisiert, korrumpiert und intrigiert; kaum eine Beziehung, die nicht von tiefem Misstrauen geprägt ist. Oksanen skizziert das Estland der 60er Jahre als Teil eines perfide agierenden Überwachungsapparates, in dem die Spione permanent beschattet werden und niemandem zu trauen ist, schon gar nicht dem eigenen Urteil.
Wunderbar respektlos
Dabei ist alles meisterhaft erzählt, Als die Tauben verschwanden ist spannend wie ein Thriller, lehrreich wie ein historischer Roman, er hat philosophische Tiefe und er unterhält – vor allem aber ist er wunderbar respektlos gegenüber allen Genregrenzen. Den Buchhändlerinnen und Buchhändlern darf man ein glückliches Händchen beim Einsortieren wünschen.
Der Einband des neuen Romans ist violett, genau wie Sofi Oksanens Haar, das Farbschema ist von den Covers der vorangegangenen Romane bekannt. In Finnland hat die Autorin längst den Status eines Popstars erreicht. Wenn Finnland auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse als Gastland vorgestellt wird, wird man sie höchstwahrscheinlich im Rampenlicht finden. Das Marketing scheint zu stimmen, allein: Sofi Oksanen ist keine Marke. Schon eher eine Ikone. Eine Intellektuelle mit zahllosen Facebook-Fans und Followern bei Twitter, eine brillante Rednerin mit viel Bühnenerfahrung, sichtlich ohne Scheu vor Auftritten in der Öffentlichkeit. Sie ist die Stimme, das Gesicht und der Geist einer engagierten Literatur, die sich weit jenseits von Empfindsamkeitskitsch oder bürgerlicher Behäbigkeit befindet. Als die Tauben verschwanden rüttelt wach. Wie ein finnischer kahvi.
Als die Tauben verschwanden Sofi Oksanen, Angela Plöger (Übers.), Kiepenheuer und Witsch 2014, 432 S., 19,99 €
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