Vögeln, Nudeln

Literatur Carmen Maria Machado ist märchenhaft, dystopisch und aktuell zugleich
Ausgabe 08/2019

Einen Band mit Erzählungen soll man so konzipieren wie ein Musikalbum, heißt es. Der Extrastich ist in diesem Sinn ein mustergültiger Opener für das Debüt der US-Amerikanerin Carmen Maria Machado. Die erste von acht Erzählungen behandelt im Zeitraffer die Lebensgeschichte der Hauptfigur. Als Kind lernt sie ihren späteren Ehemann kennen, als Jugendliche verlieben sie sich ineinander und, fast noch wichtiger, entdecken ihre Sexualität. Ein Mädchen, das sein Verlangen äußert, kann das gutgehen? „Ich kenne die Geschichten über Mädchen wie mich, und ich scheue mich nicht, neue zu schreiben“, sagt sie. Aber diese Geschichten schreibt sie nicht allein, Selbst- und Fremdbestimmung wechseln sich ab.

Der namengebende Extrastich bezieht sich auf eine reichlich misogyne Praktik, bei der nach einem Dammriss die Vagina enger genäht wird. Dem (vermeintlichen, eh klar) Lustgewinn des Mannes zuliebe. Dass das kein Mythos ist, belegen vor allem Erfahrungsberichte, Studien fehlen. Machados Hauptfigur hört nach der Geburt ihres Sohnes, wie ihr Mann dem Arzt für einen solchen Extrastich Geld bietet. Ihr „Nein“ wird nicht gehört.

Verkeilt sind wir

Es wäre keine Geschichte von Carmen Maria Machado, wenn sie nicht auch ins Fantastische verweisen würde. Um den Hals trägt die Frau ein grünes Band, immer schon, es gehört zu ihr – und ist zugleich Hüter eines Geheimnisses und Geheimnis selbst. Niemand darf es öffnen, auch nicht der Ehemann, was sein Verlangen danach nur steigert: Es ist „das Alpha und Omega seiner Begierden“. Dass es auch auf dem Umschlag und als Lesebändchen auftaucht, macht es zu einem Leitmotiv des Buches.

Machados Geschichten geizen nicht mit Sexszenen. Sie lesen sich wie eine lustvolle, queere Befreiung aus dem Korsett heteronormativer Einheitsfantasien. Oft ist das Verhältnis der Figuren zu ihrem Körper kompliziert, mitunter widersprüchlich: Er bereitet Lust und Schmerzen, ist resilient und verwundbar, bedroht durch Übergriffe, Seuchen und übernatürliche Phänomene.

In Echte Frauen haben Körper etwa werden Frauen „durchsichtig und schwach leuchtend, wie nachträgliche Einfälle“. Das könnte zu einer allzu offensichtlichen Parabel auf die mangelnde Sichtbarkeit von Frauen gerinnen. Bei Machado ist die Lage weniger einfach, um den Genuss des Rätselhaften bringt sie ihre Leser*innen nicht.

Die Ich-Erzählerin arbeitet in einer Boutique, deren Eingang sich „wie ein schwarzes Loch“ zwischen den anderen Geschäften eines Einkaufszentrums auftut. Weshalb sich die Kleider so gut verkaufen, weiß sie nicht. Erst als sie eine Affäre mit der Tochter der Schneiderin beginnt und Einblick in die Produktion bekommt, erfährt sie, was die Ware besonders macht – die transparent gewordenen Frauen lassen sich mit dem Stoff vernähen. Sie kündigt und nimmt einen Putzjob in der nächstbesten Soßenfabrik an.

Der Weltuntergang findet nebenbei statt: Dass die Regierung droht, die Unis zu schließen, handelt die Ich-Erzählerin in einem halben Satz ab. „Wir glotzen Krankenhausserien am Stück und essen gebratene Nudeln und machen rum und vögeln und schlafen zu unmöglichen Zeiten, ineinander verhakt wie Kleiderbügel.“ Das Alltägliche und das Monströse sind in Machados Erzählungen oft genauso heillos verkeilt. Das trägt dazu bei, dass sie enorm unterhaltsam sind, nur eben auf ihre eigene, hintergründige Art.

Vielmehr beweist Machado Mut zur Uneindeutigkeit. Auch beim Umgang mit literarischen Genres: Dystopien, Schauergeschichten, Legenden und Märchen fließen ineinander, sodass aus dieser Ursuppe eine ganz eigene Welt entsteht. Sie greift auf das Wiedererkennbare und Universelle zurück, zugleich nimmt sie einen hochaktuellen, durch eine feministische Weltsicht geschärften Blickwinkel ein. So reich an Allegorien und Metaphern sie auch schreibt, die Bezüge zur Realität sind unverkennbar.

Ihr Körper und andere Teilhaber, das für den National Book Award nominiert war und bereits mit zehn Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, erscheint hierzulande fast zeitgleich mit einem nicht weniger gehypten Erzählungsband: Cat Person von Kristen Roupenian, dessen deutsche Rechte sich der Blumenbar Verlag gesichert hat (der Freitag 6/2019). Die gleichnamige Kurzgeschichte wurde Ende 2017 im New Yorker veröffentlicht und so oft auf Facebook und Twitter geteilt, dass alle, die sich für Literatur interessierten, eine Meinung dazu hatten.

Es wird Zeit für kurze Formen

Vielleicht ist es einfach überfällig, dass kurze Formen die gleiche Anerkennung wie Romane finden, nachdem sie besonders im deutschsprachigen Raum lange stiefmütterlich behandelt wurden. Ob man nun auf den Inhalt schaut oder auf die Form, Machados Debüt kommt zur richtigen Zeit.

In der herausragenden Erzählung Die Bewohnerin aus Machados Band ist eine Schriftstellerin die Hauptfigur. Zum Schreiben zieht sie sich in eine abgelegene Künstlerkolonie zurück. Dort wird sie gefragt: „Hast du jemals die Befürchtung, dass du die Geschichte von der Verrückten auf dem Dachboden schreibst?“ Von dieser Verrückten, im Englischen als „madwoman in the attic“ noch geläufiger, hat man so oft gelesen, dass sie zum Klischee erstarrt ist. Ein Mangel an Originalität und Eigenständigkeit ist in dieser Gruselgeschichte das ultimative Schreckens-Szenario.

Carmen Maria Machado muss sich darüber bei ihrem überbordenden, unvergleichlichen Debüt beileibe keine Sorgen machen. Ihr Körper und andere Teilhaber erzeugt ein Echo, das bleibt, ähnlich wie die Geschichten, die Kinder dazu bringen, nachts das Licht brennen zu lassen. Und sei es nur, um weiterzulesen.

Info

Ihr Körper und andere Teilhaber. Erzählungen Carmen Maria Machado Anna-Nina Kroll (Übers.), Tropen 2019, 300 S., 20 €

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