Die Mystik der Macht

Angela Merkel Noch nie gab es einen deutschen Politiker, dem es so wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im Wahlkampf einzig und allein um den Erhalt politischer Macht ging

"Omnis determinatio est negatio" hat Spinoza gesagt, jede Bestimmtheit ist eine Verneinung. Spinoza war ein sonderbares Genie und im Ernst kann man es den Rabbinern der Amsterdamer Gemeinde nicht verübeln, dass sie ihn aus der Gemeinschaft der Rechtgläubigen verbannten und jeden Kontakt mit ihm untersagten. Spinoza ging nämlich als Philosoph more geometrico vor, streng geometrisch. Er gab sich der gnadenlosen Logik seiner Gedanken hin und rechnete und deduzierte so lange, bis er feststellte, dass das ens realissimum, das höchste Sein, alle Attribute in sich vereinen müsse, dass es reine Substanz sein müsse, ohne irgendein Prädikat. Mit anderen Worten: Spinoza erfand den Gott ohne Eigenschaften. Das war aus religiöser Sicht eine Katastrophe. Wenn man es sich recht überlegt, muss man Angela Merkel, diese Frau ohne Eigenschaften, als die erste Spinozistin der deutschen Politik bezeichnen. Und das ist aus politischer Sicht ebenfalls eine Katastrophe.

Jede Bestimmtheit ist Verneinung, jede Eigenschaft bedeutet die Abwesenheit einer anderen Eigenschaft. Nur wer ohne Eigenschaft ist, kann alle haben. Nach diesem Prinzip hat die Kanzlerin regiert und danach führt sie ihren Wahlkampf. Niemand weiß, wofür sie steht. Niemand weiß, was sie will. Außer, an der Macht zu bleiben. Gab es neben Angela Merkel bisher irgendeinen einigermaßen wichtigen deutschen Politiker, bei dem der Erhalt der Macht im Ernst der einzige Seinszweck war?

Strauß, Kohl, Brandt, Schmidt, Schröder, Fischer: Sie hatten ja alle Projekte, Visionen, Feinde, Hoffnungen. Sie erstrebten irgendetwas oder sie bekämpften irgendetwas. Angela Merkel – ist. Mehr nicht. Gäbe es sie nicht, würde man sie nicht für möglich halten. Sie ist die reine Substanz der Macht. Eine beinahe surreale Erscheinung. Ihr eigenes Gespenst. Ohne Attribute, ohne Prädikate. Das ens realissimum der deutschen Politik. Sie bekämpft niemanden, weil man sich damit nur noch mehr Feinde schafft. Sie will nichts, weil jedes Wollen auch Verzicht bedeutet. Sie hat keine Visionen, weil Visionen verlangen, den Blick zu verengen.

„Ich habe noch keinen Politiker getroffen, der so weit gekommen ist wie sie und der keinen Gesellschaftsentwurf hat“, hat SPD-Chef Franz Müntefering über sie gesagt. Münte ist ein Politiker der alten Schule. Merkel muss ihn fassungslos machen: Wie soll man jemanden bekämpfen, der gar nicht da ist? Wie führt man Wahlkampf gegen jemanden, den es nicht gibt? Die SPD lernt gerade, dass das nicht geht. Die CDU personalisiert ihren Wahlkampf? Die SPD hätte das gleiche tun sollen – in einer negativen Personalisierung. Sie hätte den Deutschen die Augen öffnen sollen über diese Mogelkanzlerin, die gelernt hat, sich in Luft aufzulösen und nur ihr spöttisches Grinsen zurückzulassen wie die Cheshire Katze aus Alice im Wunderland. Aber jetzt ist es zu spät. Nächsten Sonntag ist Wahl. Und die Deutschen werden, so sieht es aus, nicht so klug sein wie die Amsterdamer Rabbis und diese Meisterin der negativen Theologie der Macht ins Brandenburger Landhaus verbannen, von dem aus sie vor zwanzig Jahren ihren unwahrscheinlichen Siegeszug angetreten hatte.

Negative Theologie, so nennt man die Leugnung jeder Bestimmtheit. Ihre Anhänger in der Religionsgeschichte gingen den Weg der Mystik. Sie versenkten sich in das All und in das Nichts, und es kam aufs Gleiche hinaus. Spinoza verdiente sein Geld mit dem Bau von Mikroskopen und Ferngläsern. Er schliff die Linsen, mit denen man ins Kleinste und ins Größte schauen konnte. Wer weiß, vielleicht brennt so ein kaltes Feuer der Inbrunst auch im Busen der Pastorentochter. Man wünscht sich, dass sie ein Geheimnis haben möge. Weil man nicht für möglich halten will, dass sie so ist, wie sie scheint. Die jüngste Videobotschaft, die ihr Stab ins Netz gestellt hat, vor dem Gipfel der Industriestaaten in Pittsburgh, ist in Form und Inhalt wirklich niederschmetternd. Die Bundeskanzlerin spricht zu ihrer Nation mit Gestus, Stimme und Wortwahl der Diensthabenden in einem Heim für betreutes Wohnen. Es fällt schwer, sich etwas weniger Inspirierendes als die Frau vorzustellen, und es ist darum fast unmöglich, sich zu merken, was sie gesagt hat.

Als Angela Merkel eben Kanzlerin geworden war, wollte Edmund Stoiber ihr die Richtlinienkompetenz beschneiden: „Natürlich trägt die Kanzlerin eine besondere Verantwortung, aber man muss das als gemeinsame Aufgabe sehen“, sagte der damalige CSU-Chef im Oktober 2005. Merkels Biograf Dirk Kurbjuweit schreibt: „Das war damals eine Unverschämtheit, aber gegen Ende der Legislaturperiode wirkte das fast seherisch. Merkel hat die Richtlinienkompetenz für das Überleben im Amt preisgegeben.“ Keine große Kanzlerin!

Es ist denkbar, dass Angela Merkel schnell in Vergessenheit geraten wird. Die erste Frau in diesem Amt. Mehr nicht. Einmal zurück in Mecklenburg, wird sie in der deutschen Geschichte keinen Eindruck hinterlassen. Aber sie wird keineswegs spurlos an Deutschland vorübergegangen sein. Da täusche man sich nicht. Denn auch das Nicht-Handeln hinterlässt Spuren. Und in der Politik mündet das Fehlen jeder Bestimmtheit eben nicht im mystischen Nichts sondern im Ausbau der herrschenden Verhältnisse.

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