Gegen den Mainstream

Jubiläum Jakob Augstein über die Selbstkapitulation der Medien, linken Populismus und den Job des „Freitag“
Ausgabe 45/2015

Ein Vierteljahrhundert. Ein rundes Jubiläum. Ein Grund zum Feiern. Dabei ist uns, wenn wir uns umblicken, zum Feiern nicht zumute. Krise türmt sich auf Krise. Finanzkrise, Eurokrise, Ukrainekrise, Flüchtlingskrise. Die Krise ist der Normalfall geworden. Die Anspannung steigt. In Deutschland brennen die Flüchtlingsheime. Es heißt, die Einwanderer sollen „deutsche Werte“ lernen. Gleichzeitig wird bekannt: die Fußballweltmeisterschaft von 2006, das berühmte Sommermärchen, wurde wahrscheinlich gekauft, und VW, der größte deutsche Industriekonzern, hat gewerbsmäßigen Betrug betrieben. Deutsche Werte? Auf offener Straße wird in Berlin ein Journalist mit den Worten „Du linke Drecksau“ niedergeschlagen. Weimar, denkt man. Fängt es so an? Woran würden wir es merken?

Eine linke Zeitung zu machen, unter diesen Umständen, das ist eine Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen Faktizität und Geltung. Wir sehen den Kapitalismus zur gleichen Zeit im Zustand seines Versagens und seiner Unbesiegbarkeit. Es ist eine Tatsache, dass die Benachteiligten dieser Republik in 2008 und 2009 nicht aufgestanden sind, als der drohende Bankrott der Banken die Regierung zwang, viele Milliarden Euro in Bewegung zu setzen, um die der Staat und die Bürger vorher betrogen worden waren. Und es ist eine Tatsache, dass diese Menschen sich erst jetzt in Bewegung setzen, da noch Schwächere an ihre Türen klopfen.

Bilder der Ausgabe

Die Agentur Ostkreuz feiert wie der Freitag in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen. Es ist nicht das Einzige, was uns verbindet. Von den sieben ostdeutschen Fotografen, die 1990 ihre eigene Agentur gründeten, haben wir drei in unserer Zeitung porträtiert: Ute Mahler, Werner Mahler und die 2010 verstorbene Sibylle Bergemann. Umgekehrt haben drei unserer Bildredakteure ihre Ausbildung an der Ostkreuzschule gemacht.

Gesellschaftlich engagierte Dokumentarfotografie ist das Trademark der Agentur, sie findet ihren Platz in Zeitungen wie in Museen, und auch im Freitag stehen die Bilder ebensogut (und vermutlich ähnlich häufig) in der Politik wie in der Kultur. Nun treiben wir das auf die Spitze und bebildern eine ganze Ausgabe mit Ostkreuz- Fotos. Ihr eigenes Jubiläum feiern die Fotografen mit einer großen Werkschau ab 13. November im Pariser Goethe-Institut. Wer noch mehr über ihre Geschichte erfahren will, sollte sich den Film Ostkreuz ansehen, Premiere ist am 24. November in der Galerie c/o in Berlin.

Es ist auch eine Tatsache, dass die Grünen die Bundestagswahl verloren haben, weil sie für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Haushaltseinkommen von 80.000 Euro einstanden, für eine Abgabe von 1,5 Prozent auf Vermögen ab einer Million Euro sowie für eine Verdoppelung des Aufkommens aus der Erbschaftssteuer. Allesamt Pläne, die nur die obersten fünf Prozent etwas gekostet hätten. Die aber dennoch der Mehrheit Angst machten. Die Wähler hatten die neoliberale Lektion gelernt: Das Geld ist in der Hand der Reichen am besten aufgehoben.

Die zeitgenössische Linke kämpft gegen einen unsichtbaren und doch allgegenwärtigen Feind. Das ist ja das Gefährliche am Neoliberalismus: seine Unsichtbarkeit. Jobs, Schulen, Behörden, Krankenhäuser, Universitäten, alles wird dem Gesetz der Ökonomisierung unterworfen. Überall definiert man staatliche, gesellschaftliche, individuelle Aufgaben als Probleme, die man einer optimalen Lösung zuführen muss. Es zählen nur Werte, die sich messen lassen. Governance ersetzt Politik.

Die Medien haben uns vor dieser Entwicklung nicht geschützt. Sie waren Teil davon. Heribert Prantl hat in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: „Die Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens wurde auch vom Journalismus jahrelang wie ein Dogma verkündet.“ Und das betrifft auch seine eigene Zeitung.

Nachricht und Propaganda

Es ist eine ideologische Entscheidung, die die Journalisten fällen, wenn sie Effizienz zur wahren Gerechtigkeit erklären. Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer hat festgestellt: „Tatsache ist, dass all die wichtigen Themen, die mit der sozialen Frage von Ungleichheit, von Unterklassen, also die sozialen, nahezu verachtet werden. Das merkt man an der Art, wie die Berichterstattung über diese Felder intoniert wird: abschätzig, ironisch, am liebsten gar nicht. Es herrscht das Dogma, linke Themen sind out, und wer sich da noch dranhängt, tickt nicht richtig. Das führt natürlich dazu, dass die unteren Schichten unserer Gesellschaft sich im öffentlichen Diskurs nicht mehr wiederfinden.“

1990

Aufschlag Der Sonntag und die Volkszeitung fusionieren, konnte man im Oktober 1990 in einigen Blättern lesen. Verlag und Redaktion hatten die Buchmesse zum Anlass genommen, ein Zeitungsprojekt vorzustellen, das Ost und West auf Augenhöhe zusammenbringen wollte. Schwer taten sich die Gazetten bei der Einordnung. Dass bei der damals gängigen Metapher der „Brautschau“ zwei Partner gleichberechtigt sein sollten, irritierte sogar die taz. Das „Frei“ im Titel, schrieb sie, habe man sich wohl „rotgedruckt zu denken“. Naja, kam später.

In der Rette-sich-wer-kann-Gesellschaft breitet sich das große Misstrauen aus. Auch der Journalismus ist davon längst erfasst. 44 Prozent der Deutschen meinen, die Medien würden „von ganz oben gesteuert“ und verbreiteten deshalb „geschönte und unzutreffende Meldungen“, hat jüngst eine Umfrage ergeben. Die Leute irren. Es gibt keine Manipulation von oben. Die Journalisten übernehmen das selbst. Die Grenzen zwischen Nachricht und Propaganda sind schmal, nicht nur in Russland, auch bei uns. Die Tagesschau zeigte in ihrer Berichterstattung Bilder eines „von Separatisten abgeschossenen ukrainischen Hubschraubers“, die in Wahrheit von einem syrischen Hubschrauber stammten – mithin aus einem anderen Krieg. Dann berichtete ein Moskau-Korrespondent der ARD noch, dass zwei Ukrainer durch „Kugeln der neuen Machthaber“ getötet worden seien. Tatsächlich hatte ein ukrainisches Bataillon die Schüsse abgefeuert. Schließlich rügte selbst der ARD-Programmbeirat die Berichterstattung als einseitig. Chefredakteur Kai Gniffke räumte im Oktober 2014 ein, die Redaktion sei „möglicherweise zu leicht dem Nachrichtenmainstream gefolgt“.

Alternativen und Politik

Der Freitag stellt sich bewusst außerhalb dieses Mainstreams. Darin liegt seine Existenzberechtigung aber auch seine Ohnmacht. Das ist das Paradox linker Gegenöffentlichkeit. Wir können den Strom in seinem Lauf nicht ändern. Aber wir haben einen anderen Blick. Wir nehmen für uns in Anspruch, Denkort der Alternativen zu sein. Damit arbeiten wir an der Rückeroberung des politischen Raumes. Denn der Satz von den Alternativen, die es angeblich nicht gibt, ist das Ende von Politik. Den Vorwurf des Populismus muss man sich dann hin und wieder gefallen lassen. Der Philosoph Ernesto Laclau hat geschrieben, Populismus sei „die Stimme derer, die aus dem System exkludiert sind“. Ein gefährlicher Satz, wenn man nach Dresden blickt, wo die rechten Horden marschieren und ins Internet, wo die Saat von Hass und Brutalität blüht. Um so dringlicher, dass wir einen positiven Populismus von Links entwickeln, der demokratische und soziale Rechte vor Eliten und Oligarchen schützen will.

Wenn es linkspopulistisch ist, Statistiken über die Vermögensverteilung zu zeigen und offen zu sagen, welchen Anteil die obersten ein Prozent davon besitzen, dann soll der Freitag ruhig linkspopulistisch sein. Und wenn es linkspopulistisch ist, Statistiken des IWF oder der OECD zu referieren, die von der zunehmenden Ungleichheit reden, dann soll der Freitag abermals ruhig linkspopulistisch sein. Ansonsten gelten für uns auch für die nächsten fünfundzwanzig Jahre der Satz und die Hoffnung des früheren Freitag-Herausgebers Günter Gaus: „Man sollte nicht denken, dass man gesellschaftliche Fragen für alle Zeiten beantworten kann.“

Info

Dieser Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe zum 25. Geburtstag des Freitag

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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