Meins oder Deins

Hartz IV Die Wut der Gebenden ist ebenso real wie das Murren der Empfangenden. Der Sozialstaat muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden

An diesem Freitag werden sich die Experten für Sozialgesetzgebung treffen, die es in Regierung und Opposition gibt. Es sind nicht viele, die Ahnung davon haben. Die Sozialgesetze sind kompliziert geworden und werden immer komplizierter. Am Freitag wollen die Experten über Hartz IV reden: Kein Geld mehr für Zigaretten und Alkohol. 2,99 Euro zusätzlich für Mineralwasser. 30 Euro im Jahr für Klassenfahrten. 100 Euro für Schulmaterial. Und 120 Euro für Musik und Freizeit. Alles im Einzelfall zu überprüfen und zu genehmigen von den Mitarbeitern in den Behörden, die Jobcenter heißen.

Mit der Vermittlung von Arbeit haben die allerdings immer weniger zu tun. Für Millionen von Menschen sind sie zu zen­tralen Stellen der allgemeinen Existenzverwaltung geworden. Adresse für alle Wünsche und – in zunehmendem Maße – für Klagen. Aber wenn es am Freitag um die 42. Hartz-IV-Gesetzesnovelle innerhalb von sechs Jahren geht, dann wird die Regierung nur versuchen, den Geldhahn geschlossen zu halten, und die Opposition wird nur versuchen, ihn ein Stück weiter zu öffnen. Es wird um eine Handvoll Euro mehr oder weniger gehen. Und nicht um die Frage, wie ein Sozialstaat zu reformieren wäre, der niemanden glücklich macht. Weder die Gebenden noch die Empfangenden.

Seit es Hartz IV gibt, so wird geschätzt, soll es eine halbe Million Klagen und mehr als vier Millionen Widerspruchsverfahren gegeben haben. Vor Gericht wird endlos um die zahllosen Irrigkeiten des Sozialgesetzbuches gestritten, warum der Staat zwar das Gas zum Heizen zahlt, aber nicht das Gas zum Kochen. Die Anwälte leben ganz gut davon, die Bedürftigen gewinnen an Geld zumeist nicht viel. Aber vielleicht an Würde. Man darf ja die Fülle an Hartz- IV-Klagen als Versuch der Wiederaneignung von Würde verstehen.

In unserem rechtsförmigen System kann eine Klage vor Gericht eine Form des Protests sein, zumal eine Klage gegen den Staat als gebenden und vorenthaltenden Vater. Und Hartz IV ist eine einzige große Entwürdigung. Hartz IV – von Wirtschaftspolitikern bitter „arbeitsmarktpolitische Stilllegungsprämie“ genannt – entfremdet seine Empfänger vom Leben in normaler Arbeit und macht aus ihnen Überlebens-Experten im Dschungel der Regeln und Ausnahmen für Bedarfsgemeinschaften, Überbrückungsgelder und Regelsatzverordnungen. Aber nicht, weil sie faul sind oder ungelernt oder ausgebrannt. Sondern weil Vater Sozialstaat seine Kinder so erzieht, dass sie im System funktionieren.

Es gehört zu den permanentem Perversionen unseres Wirtschaftssystems, dass es Menschen hervorbringt, die die Polit-Ökonomen „Surplusbevölkerung“ nennen, die von der Teilhabe am wirtschaftlichen Leben auf lange Zeit, vielleicht für immer, ausgeschlossen bleiben. Und es gehört zu den jüngeren Perversionen unseres Öffentlichkeitssystems, dass jetzt ein lange schwelender Unmut gegen diese Surplusbevölkerung aufbricht. Die Empfangenden im Sozialstaat klagen sich ihre Wut vor Gericht von der Seele. Aber auch die Wut der Gebenden findet ihre Kanäle. Im vergangenen Jahr haben Peter Sloterdijk, Thilo Sarrazin und Frank Schirrmacher, die drei großen S der Solidarverweigerung, das Ihre getan, um eine sozialpolitische Umwertung der Werte zu erreichen. Der Philosoph, der Politiker und der Publizist wirken wie die Speerspitze in einem neuen Klassenkampf von oben. „An der neuen politischen Front stoßen zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander: hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unhintergehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren“, schreibt Sloterdijk. Ausbeutung findet statt. Aber, das ist die neue Lesart, die Armen sind die Ausbeuter. Ziel dieses in der Tat revolutionären Gedankenprojekts: Die Leistungsträger sollen ihr gutes Gewissen wiederbekommen, das ihnen im sozialdemokratischen Zeitalter genommen wurde, und, wie Sarrazin formuliert, „den Nichtleistungsträgern (ist) zu vermitteln, dass sie ebenso gerne woanders nichts leisten sollten“.

Man sollte sich nicht leichtfertig darüber entrüsten, dass das Fazit der Bemühungen dieser drei intellektuellen Großmächte nicht mehr als einen Autoaufkleber füllt: „Eure Armut kotzt mich an.“

Denn die Wut der Habenden ist nicht weniger real als das Murren der Bedürftigen. Gemeinsam münden sie in Verachtung für unsere Demokratie. Es ist gefährlich, wenn die subjektive Orientierung und das öffentliche System staatlicher Institutionen auseinanderdriften, sagt der Soziologe Oskar Negt. Am Ende steht eine gebrochene Gesellschaftsordnung, in der das Gefüge der Institutionen intakt erscheint: „Aber im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es, mit Ausbrüchen ist zu rechnen, in der Abwendung vom System entstehen politische Schwarzmarktfantasien.“ Sarrazins Millionenerfolg war so eine Fantasie.

Anstatt immer heiklere Verstrebungen in das Gerüst zu ziehen, das unseren sonderbaren Sozialstaat trägt, der nun auch noch darüber befinden soll, ob ein Kind Nachhilfe erhält und Gitarrenunterricht, wäre es hohe Zeit, den Sozialstaat als solchen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es gibt eine Lösung. Die Politik muss die Kraft aufbringen, sie zu wählen: das Grundeinkommen.

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