Der Pfefferberg im Prenzlauer Berg ist genau der richtige Ort für ein Gipfeltreffen von Orange und Rot. Das Kulturzentrum liegt genau in der geografischen Mitte. Kaum fünf Minuten Fußweg entfernt nach Osten liegt das Karl-Liebknecht-Haus. Läuft man in entgegengesetzter Richtung nach Westen, erreicht man jenen Ort, der schon heute als mythischer ausgemacht ist. In den Cafés rund um den Rosenthaler Platz trifft sich die digitale Bohème
Jakob Augstein: Herr Schlömer, wenn Sie einkaufen, wo gehen Sie dann hin? Ins Kaufhaus, in ein Fachgeschäft, oder bestellen Sie im Internet?
Bernd Schlömer: Ich bin ein traditioneller Käufer. Ich mag kleine Läden, typische Einzelhändler. Nur Schuhe kaufe ich mir immer im Internet.
Ich frage nur, weil man Analogien zwischen dem Einzelhandel und der Politik erkennen kann. Die Warenhäuser sind in der Krise und die Volksparteien auch. Gute Zeiten für den Fachhandel.
Schlömer: Naja, es gibt Leute, die beschreiben die Piratenpartei schon als digitale Volkspartei, weil wir alle Altersgruppen und soziale Schichten ansprechen. Ich sage lieber, dass wir eine liberale Partei sind.
Katja Kipping: Das macht mich neugierig. Ich will wissen: Welchem Lager ordnen sich die Piraten zu? Darum habe ich um dieses Gespräch gebeten. Wo steht ihr in den großen Konfliktlinien?
Ich finde die Frage nach den Volksparteien interessant, weil dort früher gesamtgesellschaftliche Debatten abgewickelt wurden, bevor sie in die politische Gestaltungsphase kamen. Wie verändert es den politischen Prozess, wenn die Parteien das nicht mehr leisten können?
Kipping: Man braucht die Parteien nicht mehr, um Debatten zu organisieren. Sie finden in der Zivilgesellschaft und im Internet statt. Das ist eine Emanzipation. Wenn man bei der Debatte um das Grundeinkommen auf eine große Volkspartei gewartet hätte, dann wäre es einem ergangen wie in Warten auf Godot.
Ist die Piratenpartei eine Protestpartei?
Schlömer: Ich möchte unsere Anhänger nicht als Protestwähler bezeichnen, sondern als Wechselwähler. Wenn Menschen sich entscheiden, andere Ziele, Inhalte und Programme zu wählen, sind sie Wechselwähler.
Kipping: Die Piraten sind schon ein besonderes Phänomen. Als die Grünen und die Linke sich gründeten, hatte es zuvor einen gesellschaftlichen Umbruch gegeben. Bei den Piraten war das anders: Die technische Revolution war für sie, was die Agenda 2010 für die Linkspartei war.
Schlömer: Nein. Wir haben uns nicht nur aufgrund einer technischen Innovation gegründet. Wir wollen die gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen durch mehr Bürgerbeteiligung beeinflussen. Alle suchen immer nach der Ideologie der Piratenpartei. Aber die Piraten sind eine sehr heterogene Bürgerbewegung. Junge Menschen sind heute an pragmatischen Lösungen interessiert und nicht an Ideologien.
Kipping: Die schärfste und wirkmächtigste Ideologie ist gegenwärtig die Ideologie der angeblichen Ideologiefreiheit.
Die Piraten brauchen keine Ideologie. Sie haben ein Thema: die Netzfreiheit. Die Grünen wollten keine Atomkraftwerke. Das allein ist auch keine Ideologie.
Schlömer: Genauer gesagt fing die Geschichte der Piraten mit der Debatte um das Urheberrecht an. Aber wir kümmern uns längst um mehr: Bildung, Datenschutz, Wirtschaft, Soziales, Bürgerbeteiligung und neue Demokratieformen – wir sind mehr als eine Internetpartei. Wir stehen auf drei Säulen: liberales Grundverständnis, Skepsis gegenüber dem Staat und: füreinander da sein, ein Leben in sozialer Verantwortung führen.
Dafür gibt es das Wort Solidarität.
Schlömer: Als Sozialwissenschaftler habe ich schönere Worte dafür.
Befördert Ihr System der liquiden Demokratie die Politik?
Schlömer: Wenn Politik das Streben nach den besten Lösungen ist, trägt die ständige Rückkopplung politischer Entscheidungen dazu bei. Das ist nicht nur technisch, sondern auch demokratietheoretisch ein neuer, besserer Weg.
In den letzten zwei Jahren haben wir zwei Tendenzen beobachtet: Bei den Leuten ist ein Wille zum Engagement da. Andererseits werden wichtige Entscheidungen in der Eurokrise zusehends ohne demokratische Prozesse gefällt.
Schlömer: Das kritisiert die Piratenpartei auch. Verträge wie der Europäische Stabilitätsmechanismus werden von Experten ohne parlamentarische Kontrolle entwickelt. Bei meiner Auslegung von flüssiger Demokratie kommt es darauf an, dass der Entscheidungsprozess positiv beeinflusst werden kann. Das begreifen wir als Gewinn. Das Einbringen von neuen Perspektiven soll im Ergebnis dazu führen, dass bessere Resultate erzielt werden.
Kipping: Linke wie Piraten setzen beim Fiskalpakt auf einen Volksentscheid. Das Problem der Eurokrise ist aber nicht nur mangelnde Transparenz oder Beteiligung. Die Politik hängt am Gängelband der Finanzmärkte. Dieses Problem löst man nicht durch liquid democracy oder ein Smartphone. Das ist ein realer ökonomischer Machtkonflikt. Da muss man bereit sein, sich mit den Konzernen anzulegen. Wenn ich höre, dass die Piraten die Schuldenbremse befürworten und bei der Besteuerung auf eine flat tax setzen, habe ich die Sorge, dass ihr nicht bereit seid, den nächsten logischen Schritt zu gehen, nämlich von den Reichen zu nehmen. Seid ihr bereit für den Verteilungskampf?
Schlömer: Ich werde den Piraten keine steuer- und finanzpolitische Richtung vorgeben. Beschlüsse fasst der Bundesparteitag, nicht der Vorsitzende. In den entsprechenden Arbeitskreisen gibt es Diskussionen über ein einfaches und transparentes Abgabensystem, das auf Gerechtigkeit setzt. Das sind aber Dinge, die vom Bundesparteitag entschieden werden.
Das ist nicht sehr konkret. Katja Kipping hat einmal gesagt, ab 40.000 Euro netto im Monat gebe es kein Mehr an Lebensgenuss.
Schlömer: Die Einführung der Reichensteuer würde letzten Endes nur dazu führen, dass eine weitere Steuer hinzukommt. Das untragbare Steuersystem würde damit nicht geändert. Wichtiger wäre mir eine Diskussion über die Effektivität und Effizienz des derzeitigen Abgabensystems.
Aber stärkt eine Reichensteuer bei den Menschen nicht das Gefühl der Gerechtigkeit?
Schlömer: Ein neues Abgabensystem könnte auch zu mehr Gerechtigkeit führen, wenn die Menschen überhaupt erst einmal nachvollziehen können, wofür ihre Abgaben verwendet werden.
Kipping: Moment, da muss ich nachhaken. Man kann sich nicht damit rausreden, dass man über ein neues System nachdenken müsse. Die Piraten haben sich klar zur Schuldenbremse bekannt und gleichzeitig für einen kostenlosen ÖPNV und das Grundeinkommen ausgesprochen. Das geht nur mit einer enormen Umverteilung von oben nach unten.
Schlömer: Um das klarzustellen: Wir denken über ein vereinfachtes, effektiveres und effizienteres Abgabensystem nach, das nicht nur Steuern, sondern auch zweckgebundene Abgaben betrifft. Das ist aber nur ein Diskussionsstand. Ich muss Rücksicht auf meine Parteikollegen nehmen. Wir Piraten stehen für eine andere Art der Politik.
Eine typische Politiker-Antwort: „Das entscheiden wir in den Gremien zum angemessenen Zeitpunkt.“ Sie haben Katja Kippings Frage nicht beantwortet.
Kipping: Man sollte die Piraten nicht zu sehr dafür kritisieren, dass sie noch nicht auf alle politischen Fragen Antworten haben. Ich habe auch in meiner Partei dafür geworben, dass wir Punkte benennen, über die wir noch diskutieren müssen. Wenn man aber zu Wahlen antritt und zu Koalitionsverhandlungen eingeladen wird, hat doch der Parteivorsitzende Entscheidungsmacht, wenn es zu einer Frage keine Position gibt.
Schlömer: Die Piratenpartei tritt an, die politischen Methoden zu verändern. Das betrifft auch Koalitionsverhandlungen. Sie wären stärker von Öffentlichkeit und Beteiligung geprägt. Mein Amtsverständnis ist nicht geprägt von Entscheidungsmacht. Ich versuche, mich mit möglichst vielen Piraten rückzukoppeln.
Gut, es geht Ihnen um eine Methode, nicht um ein Programm. Aber funktioniert diese Methode so, wie Sie sich das wünschen?
Schlömer: In den Medien wird oft berichtet, die Beteiligung an unserer Liquid-Feedback-Software sei gering. Das sehe ich anders. Vor acht Wochen hatten wir 16.000 zahlende Mitglieder, 11.000 hatten die Möglichkeit, an Diskussionen teilzunehmen.
Riskieren Sie nicht, dass damit zwei- oder dreihundert Personen Beschlüsse fassen?
Schlömer: Das Tool erzeugt nur Meinungsbilder. Die Beschlüsse trifft der Bundesparteitag.
Frau Kipping, als die Linkspartei das westdeutsche Parteisystem betrat, ist sie nicht mit offenen Armen empfangen worden. Da geht es den Piraten anders.
Kipping: Das ist richtig. Der mediale Willkommensgruß für die Piraten ist positiver ausgefallen. Das lag vielleicht auch daran, dass Medienkonzerne keine Angst vor den Piraten haben mussten.
Schlömer: Es weckt eben öffentliches Interesse, wenn sich eine junge Partei entwickelt. Bei den Grünen vor 30 Jahren war die Medienökonomie noch nicht so ausgeprägt wie heute. Als ich gewählt wurde, bin ich gegen eine Wand von Kameras von Fotografen gelaufen – und auch ein bisschen davor erschrocken.
Ich würde gerne noch einmal zur Europolitik zurückkommen. Die Linke hat in Karlsruhe gegen die Eurorettungspläne geklagt. Der Demokratieverlust, den Sie kritiseren, betrifft nur die nationalstaatliche Ebene. Ich sehe da nicht den Anspruch, eine europäische Öffentlichkeit zu gründen.
Kipping: Ich teile Ihre Einschätzung nicht. Unsere Forderung ist nicht: „Zurück zum Nationalstaat!“ Wir wollen einen europaweiten Sozialpakt. Ein europaweiter Volksentscheid wäre eine Alternative.
Schlömer: Uns geht es nicht um nationale Parlamente. Auch das europäische Parlament hat kaum Einflussmöglichkeiten. Die Piraten versuchen zurzeit, sich mit ihren Schwesterparteien zu vernetzen. Wir wollen eine europäische Partei mit europäischer Programmatik bilden. Allerdings ist die deutsche Piratenpartei sehr groß und dominiert diese Diskussion zurzeit.
Frau Kipping, können Sie erklären, was man unter „Commons“ versteht?
Kipping: Commons sind die zeitgemäße Form, die Eigentumsfrage zu stellen. Wissen und Kultur sind gemeinsame immaterielle Güter. In der Wissensgesellschaft gibt es andere Formen von Produktion. Das verändert unser generelles Verständnis von Beteiligung, aber auch von Produkt und Arbeit.
Beschäftigten Sie sich damit?
Schlömer: Natürlich. Wir kennen das als Creative Commons, die CC-Lizenz. Es geht darum, dem Gemeinwesen Wissen, Informationen und Kultur zur Verfügung zu stellen, damit daran alle teilhaben können.
Darin sind Linke und Piraten sich also einig?
Schlömer: Ich habe nie gesagt, dass es nur Trennendes gibt.
Kipping: Es gibt sogar ein konkretes Ergebnis der Zusammenarbeit: das Transparenzgesetz in Hamburg: Die Stadt Hamburg hat ein Gesetz beschlossen, wonach Verträge über 100.000 Euro ins Netz gestellt werden müssen. Dieses Gesetz wurde über ein Wiki erarbeitet und ist vor der Verabschiedung von Linken, Piraten, dem Chaos Computer Club und Transparency International promotet worden. Das sollten andere Bundesländer aufgreifen. Ich habe noch einen Vorschlag für eine Gemeinsamkeit: Am 13. Februar hat Dresden jedes Jahr das Problem mit den Nazis. Sie missbrauchen diesen Tag für ihre üble Form von Geschichtsrevisionismus. Meine Frage an dich wäre, ob die Piraten nächstes Jahr bereit wären, virtuell für Blockaden zu mobilisieren?
Schlömer: Das haben wir ja schon in diesem Jahr gemacht, im letzten ebenfalls. Wenn du möchtest, können wir da auch gemeinsam auftreten. Da sind wir einer Meinung.
Die Commons-Idee ist in einer bestimmten Alters- und Bildungsschicht international anschlussfähig. Dazu braucht man keinen besonderen kulturellen Hintergrund. Ist das eine Keimzelle für eine moderne Form von Sozialismus?
Kipping: Ich denke schon. Marx hat gesagt: Die entscheidendste Produktivkraft ist der Mensch. Er wäre begeistert von der Digitalisierung. Früher hieß es in der Arbeiterbewegung: „Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still“. Heute reicht ein Klick. Anonymous zeigt ja!
Schlömer: Mir geht das zu weit. Das Sozialismuskonzept kann ich nicht teilen. Es muss auch das individuelle Recht geben, selbst zu entscheiden, ob man seine Werke zur Verfügung stellen möchte. Beim sozialistischen Konzept habe ich das Gefühl, dass es einen Bereitstellungszwang gibt. Das lehne ich ab.
Herr Schlömer, als Sie sagten, dass Sie nicht links seien – was meinten Sie damit?
Schlömer: Dass ich liberal bin.
Das ist ein Wort gegen das andere.
Schlömer: Ich schaffe es nicht, mich in einem zweidimensionalen Links-Rechts-Spektrum zu verorten. Ich finde es sinnlos, eine Matrix anzulegen, die aussagt, ob ich eher links oder rechts bin. Mein Politikverständnis ist von der Vorstellung geprägt, dass ich als freier Bürger selbstbestimmte Entscheidungen treffen kann, ohne von staatlichen Eingriffen bedrängt zu werden. Insofern bezeichne ich mich als liberalen Menschen.
Eine Studie von Claus Leggewie kam zu dem Ergebnis, die Piraten seien den Linken inhaltlich am nächsten. Wundert Sie das?
Kipping: Wenn man sich die Forderungen auf den Wahlplakaten ansieht, überrascht mich das nicht. Die Sache ist nur: Um das alles umzusetzen, muss man wirklich zum Piraten werden und an die Reichen und Konzerne ran. Ich als Linkslibertäre hoffe, dass die Piraten das linkslibertäre Spektrum unterstützen. Nicht, dass man am Ende die Piraten wählt und damit die FDP unterstützt! Aber ihr habt ja noch nicht entschieden, welchen Weg ihr einschlagen werdet.
Schlömer: Während dieser Podiumsdiskussion wird das sicher nicht entschieden.
Zentral ist der Herrschaftsbegriff. Wie verhält man sich zu ihr? Das ist für eine politische Partei doch die Hauptfrage.
Schlömer: Es geht uns darum, politische und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Wir wollen Voraussetzungen schaffen, um diese Teilhabe zu realisieren. Dazu gehört die Bildung und Qualifizierung junger Menschen, damit sie bewerten und beurteilen können, damit sie Chancengleichheit und -gerechtigkeit erleben, um politisch und gesellschaftlich beteiligt zu werden. Das setzt ein geringes Maß an Herrschaft und ein hohes Maß an Beteiligung voraus.
Wenn Sie das ernst meinen, müssen Sie auf Dauer eine linke Partei werden. Anders geht es gar nicht. Da hat Frau Kipping doch recht: Was Sie an Teilhabe einfordern, funktioniert nur über Umverteilung.
Schlömer: Sie labeln das als links. Ich habe da ein anderes Verständnis – wie viele andere Piraten. Ich kann Ihr Label „links“ da nicht entdecken.
Katja Kipping, 34, führt seit Juni mit Bernd Riexinger die Linkspartei. Dabei wollte sie nach der Geburt ihrer Tochter im vorigen Jahr erst einmal kürzer treten. Die Dresdnerin hat einen langen politischen Lebenslauf: 1999 zog sie in den sächsischen Landtag ein, 2003 wurde sie stellvertretende PDS-Bundesvorsitzende. Seit 2004 engagiert sie sich für das bedingungslose Grundeinkommen, seit 2005 ist sie Mitglied der Linksfraktion im Bundestag.
Bernd Schlömer, 41, ist seit April Vorsitzender der Piratenpartei. Er setzte sich beim Parteitag in Neumünster mit 66,6 Prozent der Stimmen gegen sieben andere Kandidaten durch. Der Kriminologe – Spitzname „Bundesbernd“ – ist Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium. Nach seinem Parteieintritt 2009 übernahm er fast zeitgleich das Schatzmeisteramt und betreute die Finanzen der Partei.
Weitere Beiträge zu den Gemeinsamkeiten von Linken und Piraten:
Analyse: Warum die Opposition sich selbst gegen Angela Merklen so schwer zusammenraufen kann.
Programmcheck. Schnittmengen von Linken und Piraten
Um sich den Videomitschnitt des Gesprächs anzuschauen, hier entlang.
Die Dokumentation des Diskussionsabends finden Sie ebenfalls auf freitag.de.
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