Jakob Augstein: Sie schreiben in Ihrem Pamphlet „Unsere schönen neuen Kleider“ von Ihrer eigenen Sprachlosigkeit und Vereinzelung. Sind Sie so sprachlos?
Ingo Schulze: Zweimal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass mir die Worte abhanden gekommen sind. Einmal im Laufe des Jahres 1990, wir hatten eine Zeitung gegründet, das Altenburger Wochenblatt, um die Demokratie zu befördern, und dachten, das wird ein langer Übergang in der DDR werden. Dann kamen Währungsunion und Beitritt. Damals hatte ich den Eindruck, es zählen nur noch die Zahlen, auf die Worte kommt es nicht mehr an. Es schien gleichgültig zu sein, was wir schreiben, wichtig schien nur noch, dass wir gekauft wurden. Es hat dann lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass auch der Westen auf Metaphysik und Absprachen aufgebaut ist, auf einem Gesellschaftsvertrag.
Und das zweite Mal?
Das war im Herbst 2008, als die Finanzkrise so offensichtlich wurde. Da glaubte ich, jetzt wird sich sehr grundlegend etwas ändern. Das kann man sich als Gemeinwesen kein zweites Mal zumuten. Und dann geschah: nichts. Dabei war die Lage dramatisch, einfach auch dadurch, dass die Gewinne privatisiert wurden und die Verluste sozialisiert. Gut, dass konnte man schon vorher wissen, aber ich dachte, jetzt ist Schluss. Doch es geht so weiter. Und dann steht lapidar im Armuts- und Reichtumsbericht, dass viele Verbindlichkeiten vom privaten Sektor auf den Staat übergegangen sind.
Beschreiben Sie mir doch mal Ihren Gerechtigkeitsbegriff? Offenbar ist das ein zentrales Wort bei Ihnen.
Gerechtigkeit fängt für mich bei der Würde der Arbeit an. Dass die Begriffe Arbeit und Gerechtigkeit erstmal wieder zusammengehören. Dass man über den Arbeitsplatz nicht ohne Ende erpressbar wird. Und dann gibt es noch ein paar Dinge, die mir wichtig sind: Zum Beispiel möchte ich nicht überlegen müssen, auf welche Grundschule ich meine Kinder schicke. Kann ich ihnen die Schule um die Ecke zumuten? Ich zahle gern Steuern, aber ich will dann nicht in eine AG Schulflure eintreten müssen, damit die Kinder in halbwegs vernünftigen Räumen lernen können. Und mein Nachbar soll sich darüber auch keine Gedanken machen müssen, egal, ob er das Dreifache von mir oder nur die Hälfte verdient.
Aber hat das was mit Gerechtigkeit zu tun? Ist das nicht eher eine Frage des Vertrauens in staatliche Institutionen?
Für mich ist es eine Frage der Gerechtigkeit, ob man gleiche Chancen hat. Also entweder ist die Schule für alle da, oder sie ist es nicht. Da kann man jetzt jeden Bereich unserer Gesellschaft durchgehen. Wenn ich beim Arzt anrufe und als Erstes gefragt werde, ob ich privatversichert bin und nicht wie es mir geht, dann hat das für mich nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Gerade im Gesundheitswesen und in der Bildung dürfen die Chancen nicht vom Geldbeutel des Einzelnen oder der Familie abhängen.
Der Welt kam die Vorstellung von einer Alternative abhanden
Weiter im heiteren Begriffe-Raten: Demokratie? Sie verwenden ja auch den Begriff „Postdemokratie“, der vom englischen Sozialwissenschaftler Colin Crouch geprägt wurde.
In meinem Buch steht nicht mehr „Postdemokratie“. Ich habe den Begriff mal in einem Artikel verwendet, heute würde ich das nicht mehr so sagen. Heute würde ich eher von Pseudodemokratie sprechen, als einer marktkonformen Demokratie. Wir müssen wieder lernen, unsere eigenen Ansprüche zu formulieren. Und mein Anspruch wäre, dass ich als Bürger ein selbstbestimmtes Leben in einer Gesellschaft führe, in der Freiheit und soziale Gerechtigkeit unbedingt zusammengehören. Das impliziert, dass ich mitentscheide, wohin es in diesem Land geht. Das Schwierige aber ist, dass meine Souveränität an Vertreter übertragen wird, die sich selbst in aller Regel nicht als souverän empfinden und glauben, nur darauf reagieren zu können, was ihnen „der Markt“ vorgibt.
Aber was machen Sie, wenn jemand daherkommt wie die Bundeskanzlerin, und sagt, wenn ihr wollt, dass es hier so weiterläuft mit den Autos und den Flachbildfernsehern und immer schön in den Urlaub fahren, dann verträgt sich das nicht mit demokratischen Abstimmungsprinzipien; beides zusammen können wir halt nicht haben.
Das wäre doch eine Bankrotterklärung.
Aber was machen Sie, wenn die Leute bei den Wahlen sagen, ich bin auf jeden Fall für den Flachbildfernseher?
Dann muss ich als Politiker sagen, dafür stehe ich nicht. Dann werde ich halt nicht wiedergewählt, aber ich mache das nicht mit. Allerdings sehe ich das auch nicht als ein Entweder – Oder. Wer bezahlt denn heute unsere Rechnung?
Finden Sie, dass wir uns gesamtgesellschaftlich ausreichend klug, ausreichend kritisch mit den Problemen auseinandersetzen?
Nein, finde ich nicht. Für mich ist entscheidend, was 89/90 passiert ist. Ich werde demnächst einen Vortrag in den USA halten über die Wende und die Folgen. Als Vorschläge für die Einladungskarte kamen sofort Bilder von Trabis, Bananen und so weiter. Das ist auch alles richtig, aber die andere Hälfte sind Lehman Brothers und das Arbeitslosengeld II. Wenn man sich den Armuts- und Reichtumsbericht anschaut, heißt es darin, dass es diese Tendenz der Polarisierung seit 20 Jahren gibt. Dieses 89/90 ist eine Zäsur. Damals sind neue Selbstverständlichkeiten entstanden, fragwürdige Selbstverständlichkeiten. Der Welt kam die Vorstellung einer Alternative abhanden. Das führt zu so einem Humbug wie den „alternativlosen Entscheidungen“ von Frau Merkel. Der Rahmen, in dem ein gesellschaftliches Gespräch stattfindet, ist viel zu eng. Zwänge werden zu Sachzwängen umgedeutet, Politisch-Historisches zu Naturgegebenem.
Die Politiker nehmen sich selbst nicht ernst
Sie sagen, die Politik habe sich entmachtet. Warum hat sie das getan?
Ich habe immer gestaunt, wenn Politiker, wenn Bundeskanzler, sagen: „Mehr war nicht durchsetzbar.“ Warum eigentlich nicht? Ich wünsche mir, dass von Journalisten nachgefragt wird, wenn so ein Satz kommt. Da gibt es viele Gründe. Zum Beispiel: „Wir müssen privatisieren“ ist so ein Glaubenssatz, der fast flächendeckend die Politik beherrscht. Und dann kommt natürlich ein wahnsinniger Druck aus der Wirtschaft dazu. Das Fatale ist, dass 1998 Rot-Grün den Hebel umgelegt hat. Bis dahin war ich ein begeisterter Rot-Grün-Wähler.
Es gibt drei Möglichkeiten: Die Politiker glauben, was sie sagen. Oder sie sind bestochen. Oder sie fühlen sich unter Druck und glauben, die globale Wirtschaft habe ihnen längst das Heft aus der Hand genommen? Was glauben Sie?
Am uninteressantesten finde ich die zweite Möglichkeit. Bestechung mag es geben, und das kommt wohl auch häufiger vor, als wir denken. Aber das ist nicht das Entscheidende. Bei der dritten Version ist klar, dass wir sowieso nur noch einen kleinen Teil retten können und dann müsste man fragen, wie ist es dahin gekommen? Ich zitiere das Ahlener Programm der CDU von 1947, in dem es heißt: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Was ist davon geblieben? Die Politiker haben keine Vorstellung mehr von Souveränität, sie nehmen sich selbst nicht ernst – und glauben natürlich, was sie sagen.
Meine letzte Frage baut auf dem letzten Satz Ihres Buches auf. „Wir müssen über die Geste und die symbolische Handlung hinaus unseren Willen gewaltlos kundtun und dies wenn nötig auch gegen den Widerstand der demokratisch gewählten Vertreter.“ Sie sprechen von Gewaltlosigkeit. Ist die Gewaltfrage für Sie ein für alle Mal beantwortet?
Eigentlich schon. Im Iran oder in China mag das anders sein, aber für Deutschland bin ich davon überzeugt. Gewalttätig sind nur die nützlichen Idioten. Auch diese Erfahrung kommt von 89. Aber dafür muss es genug engagierte Bürger geben. Warum machen nicht einfach mal 20.000 Menschen zu gegebener Zeit einen Spaziergang zum Kanzleramt?
Der nächste Freitag -Salon in der Reihe Liegt links die Zukunft? mit Gregor Gysi findet am 25. Oktober im Berliner Gorki-Theater statt. Beginn: 19.30 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Gegenwart. 2007 erhielt er für den Erzählband Handy den Preis der Leipziger Buchmesse.
Zuletzt erschien: Unsere schönen neuen Kleider. Gegen eine marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte im Hanser Verlag
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