Sowjeterbe: Propaganda-Porzellan von einst lässt Sammlerherzen höher schlagen
Zeitgeschichte Inspiriert vom Traum, die erste kommunistische Gesellschaft der Welt aufzubauen, sorgt die Revolution von 1917 für eine Explosion der Kreativität. Sie gilt auch dem Geschirr des Zaren, das umgewidmet wird
Werke von Alisa Golenkina, Nina Zander, Sergej Tschechonin und Natan Issajewitsch Altman (von links oben im Uhrzeigersinn)
Fotos: Vladimir Tsarenkov's Collection, London (Alexander Fox and Roy Fox)
Als die Bolschewiki nach der Revolution von 1917 die Türen der berühmten Kaiserlichen Keramikfabrik in Petrograd öffneten, fanden sie große Bestände an noch unverziertem weißen Porzellan. Teller, Tassen, Schalen und Kannen waren in rauen Mengen vorhanden, sodass die neuen Autoritäten sofort das ihnen zufallende Potenzial erkannten. Die Revolution war imstande, eine Explosion der Kreativität auszulösen. Inspiriert vom Traum, die erste kommunistische Gesellschaft der Welt aufzubauen, stürzten sich Künstler darauf, unberührte Flächen zu bemalen und sinnstiftende Identifikationsmomente zu setzen. Bereits im November 1918, zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution, präsentierten sie erste Werke in einer Bildsprache, die eine
ine neue Ästhetik ankündigte. Bürgerkrieg, Chaos und Mangel zwangen dazu, alles verfügbare Material zu verwenden und zu ignorieren, dass die Initialen des Zaren noch auf der Unterseite mancher Kostbarkeit standen.„Die neue sowjetische Regierung erkannte der Porzellankunst eine wichtige Rolle beim Umbruch des Landes zu“, sagt die Kunsthistorikerin Katharina Metz, die vor Jahren in Chemnitz eine Ausstellung mit Exponaten jener Zeit kuratierte. In der Regel handelte es sich dabei keineswegs um Massenware, mit der Menschen in Moskau oder Nischni Nowgorod ihren Alltag bestritten. Das Porzellan wurde in sehr kleinen Serien hergestellt – oft handelte es sich um Einzelstücke. Sie sollten dazu dienen, durch ihren repräsentativen Charakter auf das neue Regime aufmerksam zu machen. Was durchaus gelang, wenn es zum Versand nach Westeuropa kam. Ausstellungen in Berlin, Stockholm, Lyon oder in anderen Städten erregten viel Aufmerksamkeit und verschafften den Künstlern internationale Reputation.„Die Porzellankunst diente der Darstellung revolutionärer Ideen und der neuen ästhetischen Konzeptionen des Sowjetstaates. Sie trug so nicht unerheblich zu dessen Popularisierung bei“, so Katharina Metz. Es gab Muster mit roten Fahnen, mit Silhouetten von Fabriken oder mit Hammer und Zahnrad, doch ebenso Abstraktionen und geometrische Kompositionen. Grob unterteilt lassen sich zwei Kategorien unterscheiden: Das sogenannte Agitationsporzellan erhielt seine Einzigartigkeit durch ein neuartiges, ungewöhnliches Dekor, das revolutionären Wandel spiegelte oder ankündigte. Zugleich verwendeten die Künstler auf Tassen und Schalen populäre Symbole. An Tellerrändern erschienen, akribisch gemalt, kraftvolle Parolen des Proletariats. Größere Oberflächen schmückten Helden der Revolution: Arbeiter, Bauern oder Soldaten der gerade entstandenen Roten Armee.Diese Art von Porzellan diente dem gleichen Zweck wie im Ersten Weltkrieg Flugblätter an den Fronten und Propagandaplakate im Hinterland. Man wollte die Massen beeindrucken und beeinflussen, um sie dafür zu gewinnen, das politische Projekt der Bolschewiki zu unterstützen. Besonders taten sich Künstler wie Alisa Golenkina, Sergej Tschechonin, Nina Zander und Marija Zimmer hervor, die ein außergewöhnlich schönes Agitationsporzellan hinterließen. „Im auffälligen stilistischen Kontrast stehen die suprematistischen Entwürfe der Künstler, die auf nichtfigürliche abstrakte Formen zielen“, sagt Katharina Metz. Als Teil der Avantgardebewegung experimentierten hier Formgestalter und Maler mit neuen Möglichkeiten, indem sie Grundelemente der Geometrie ins Spiel brachten wie Quadrate, Kreise und Dreiecke in auffälligen Farben und in einer Vielzahl von Variationen.Inspiriert von den Ideen Kasymyr Malewytschs (1879 – 1935) kam es zu neuen Ausdrucksformen, die sich nicht nur im Porzellan, sondern auch in Gemälden und der Architektur des frühen Sowjetstaates niederschlugen. Malewytsch, der heute vor allem durch das Gemälde Das schwarze Quadrat erinnert wird, war kein „russischer Maler“, wie das in deutschen Medien immer gern falsch dargestellt wird. Er bezeichnete sich selbst als Polen wie auch als Ukrainer, um als solcher einen bedeutenden Beitrag zur frühen sowjetischen Porzellankunst zu leisten. Ein suprematistisches Teegeschirr aus seiner Hand sticht besonders hervor. Die Kanne lässt sich nur schwer beschreiben, sieht aber auf jeden Fall nicht danach aus, als hätte man darin für die Familie des Zaren einst Tee aufgießen wollen. Das Gefäß wirkt wie ein Medium der Industriefantasie oder eine futuristische Vision, bei der Rohre, Griffe, Dampfventile und Zylinder einer Fabrik ineinandergreifen. Dazu entwarf Malewytsch Paare von halben Tassen, bei denen die eine Hälfte angeblich überflüssig war. Andere suprematistische Figuren überließ der Künstler seinem Schüler und Nachfolger Nikolaj Sujetin (1897 – 1954).Unter den Vertretern der verschiedenen avantgardistischen Kunstströmungen jener Zeit waren Malewytsch und Sujetin keineswegs die einzigen, die ihr Können auf Porzellan übertrugen. Zu ihnen gesellte sich, ebenfalls als Suprematist, der prominente Malewytsch-Schüler Ilja Tschaschnik. Irina Roschdestwenskaja wiederum schuf ein außergewöhnlich elegantes Kaffeegeschirr. Darüber hinaus hinterließen prominente Avantgardekünstler wie Wassily Kandinsky, El Lissitzky, Wolodymyr Tatlin und Aleksandr Wesnin ihre Spuren auf dem frühen sowjetischen Porzellan. Der Ausdruck des Suprematismus an sich – die radikalen Abstraktionen und der Bruch mit dem Kunstverständnis der vorherigen Epoche – eignete sich hervorragend für den Aufbau einer neuen Gesellschaft, schließlich das Vorhaben der Bolschewiki.Dabei vermischten sich Kunst und gesellschaftlicher Umbruch, freilich mit einer auffälligen Besonderheit. Da ein Großteil des Porzellans tatsächlich aus der Zarenzeit stammte, ergab sich bei einigen Werken ein anregender Widerspruch – zwischen Motiv und Form, zwischen dem Neuen, das kommen, und dem Alten, das entschwinden sollte. Es erinnerte an Geburt und Tod, eine faszinierende Spannung baute sich auf zwischen dem Zaristisch-Traditionellen und Suprematistisch-Radikalen.Viele der originellsten Porzellanentwürfe gingen auf den Keramikunterricht der 1920 gegründeten Höheren Staatlichen Künstlerisch-Technischen Werkstätten WChUTEMAS zurück. Dort führte man bahnbrechende Lehrmethoden ein, darunter eine umfassende Studentendemokratie. WChUTEMAS war insofern ein Gegenstück zum Bauhaus in Deutschland. Die Lehrer und Studenten begriffen die Ateliers als einen Ort der frühen sozialistischen Moderne in der Kunst, Architektur, Keramik, Installation und im Textildesign. 1921 erhielt die WChUTEMAS-Keramikgruppe einen außergewöhnlichen Auftrag. Sie sollte Geschenke für die Delegierten des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (KI) herstellen, die – aus mehr als 50 Ländern kommend – den ersten Arbeiter- und Bauernstaat der Welt besuchten. Eine der dem gewidmeten Arbeiten war ein aufsehenerregender Teller von Oganes Tatewosjan, der sich für ein orientalisches Motiv entschieden und am Rand auf arabisch die Schrift „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ platziert hatte. Dazu gab es auf der Rückseite das WChUTEMAS-Logo und die Erklärung des Künstlers, den Boden für die Weltrevolution im Nahen Osten bereiten zu wollen.Sammler greifen zuDie Männer und Frauen, die das Agitationsporzellan schufen oder mit suprematistischen Formen versahen, habe ein tiefes Engagement und der Wunsch nach Veränderung verbunden, findet Katharina Metz. „Die Bereitschaft, sich über die Kunst am Aufbau des neuen Lebens wie auch an der Propaganda für die Revolution zu beteiligen – das einte sie.“ Ihr sei als Kunsthistorikerin aufgefallen, dass die unverhüllte politische Tendenz dieser Porzellankunst keineswegs die künstlerischen Standards verdrängt habe.Vermutlich eine Erklärung dafür, dass Propaganda-Porzellan aus der Sowjetunion seit Jahren immer begehrter wird. Entgegen der ursprünglichen künstlerischen Absicht kapitalisieren Auktionshäuser in Westeuropa und exzentrische Sammler die schöpferische Ausbeute der Revolution. Ein Teller von Alisa Golenkina mit der Inschrift „Alles von Wert und Vernunft wird durch Wissen und Arbeit geschaffen“ ging 2020 bei einer Auktion in London für mehr als 55.000 Euro an einen neuen Eigentümer, mehr als das Vierfache des vom Auktionshaus Christie’s geschätzten Wertes. Und als Sotheby’s im darauffolgenden Jahr einen Teller von Aleksej Worobjewskij anbot, fiel der Hammer erst nach 460.000 Euro. Fast das Zwölffache des Schätzwertes. Seither bieten Auktionshäuser das Propaganda-Porzellan teils für schwindelerregende Summen an.
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