Zeitgeschichte 1933 Industrielle Formgestaltung schafft Alltagskultur. Das zumindest gilt für eine Leuchte, die in der UdSSR mit der beschleunigten Industrialisierung Anfang der 1930er Jahre auftaucht – in Büros ebenso wie in Wohnungen
Bei Online-Auktionen werden für ein Exemplar heute gut und gerne 200 Euro bezahlt
Foto: Privat
Die tiefschwarze Oberfläche des Lampenschirms wirkt glatt und matt zugleich. Eine Eigenschaft, die dem verwendeten Material Bakelit zu verdanken ist. Ein für die Arbeit am Schreibtisch augenfreundlich gefälliges Licht fällt herab. Der Knopf zum Anschalten unten rastet mit einer Art kleinem Schnalzlaut zuverlässig ein. Und das, obwohl die Leuchte um die 90 Jahre alt ist: „Klick …“
„Die Karbolit-Lampe wurde ab 1932 in einer Fabrik der Stadt Orechowo-Sujewo (Oblast Moskau) in der Sowjetunion als Massenprodukt hergestellt und ein Jahr später landesweit verkauft“, erklärt Aljona Sokolnikowa, Kuratorin und Expertin für Formgestaltung der Sowjetzeit. „Während des knapp 70 Jahre währenden Daseins dieses Staates un
Staates und seiner Gesellschaft wurde sie eines der bekanntesten Designs für Gegenstände des täglichen Bedarfs. Die Lampe wurde hunderttausendfach hergestellt.“ Bei Bakelit handelt es sich um einen schwarzen Kunststoff, der mit den 1930er Jahren zu einem der ersten Plastikmaterialien weltweit aufstieg. Man verwendete diesen Grundstoff unter anderem für Drehscheibentelefone, Tür- und Fenstergriffe. Die sowjetische Version des Materials heißt „Karbolit“– sowohl die dafür zuständige Fabrik in Orechowo-Sujewo als auch die Lampe selbst wurden unter diesem Namen bekannt.Sieben Rubel, 50 KopekenNach dem Aufkommen der ersten Kunststoffe gab es eine weitere Entwicklung, von der die Formgebung jener Lampe beeinflusst wurde. Aljona Sokolnikowa verweist auf die besondere organische Form der Lichtquelle: „Unter dem Einfluss der internationalen Forschung im Bereich der Aerodynamik wurde in den 1920er und 1930er Jahren das Stromlinienförmige von Autos und Zügen populär. Dieser Trend machte sich auch bei Alltagsgegenständen bemerkbar.“ Darüber hinaus, ließe sich hinzufügen, griff die Karbolit-Lampe auf die Expertise renommierter Hochschulen des Funktionalismus und des sublimen Kunsthandwerks zurück. Dazu die 39-jährige Kuratorin: „In den 1920er Jahren wurde die Forschungsabteilung der Karbolit-Fabrik von dem berühmten Philosophen, Mathematiker, Erfinder und Theologen Pawel Florenski geleitet. Er lehrte zugleich an der Kunsthochschule der Avantgarde WChUTEMAS in Moskau.“ Bemerkenswert ist der Umstand, dass die sowjetische Leuchte an ein Modell von Christian Dell erinnert, einem Pionier des modernen Industriedesigns, bekannt durch seine Arbeiten am Bauhaus in Weimar und die Leuchten der Serie „Kaiser Idell“.Freilich erreichte die Karbolit-Lampe in ihrer sowjetischen Spielart nicht die Flexibilität der späteren, sehr beliebten Architektenleuchten. Sie ließ sich nur an zwei Gelenken verstellen und konnte nicht um 360 Grad gedreht werden. Klopft man mit den Fingernägeln auf den Schirm, wirkt der glatt, fast zart und dann auch wieder porös. Die Oberfläche fühlt sich gleichermaßen rau und weich an. Vom Fuß hängt das Kabel, das im originalen Stecker wie ein gespaltener Schwanz endet. Beim Anheben überrascht das Gewicht, geschuldet dem wuchtigen Sockel, der jedes Umkippen verhindern sollte. Auf der Unterseite waren das Fabriklogo und der Preis eingraviert. Für bescheidene sieben Rubel und 50 Kopeken konnten Sowjetbürger ab 1933 ein Exemplar erwerben.Bei Online-Auktionen liegt der Preis heute – je nach Zustand – um die 200 Euro. Auf den zahlreichen Flohmärkten des postsowjetischen Universums, ob in Sankt Petersburg, Moskau oder Taschkent, muss in der Regel weniger bezahlt werden. Dort behauptet sich die Leuchte neben anderen gut gestalteten Gebrauchsgegenständen sowjetischer Provenienz wie den begehrten Newaljaschka-Puppen – einem weit verbreiteten Plastikspielzeug – oder kunstvoll gefertigtem Porzellan aus damaliger Leningrader Fabrikation. Die Karbolit-Lampe wurde bis 1970 ohne wesentliche Änderungen produziert, in Schwarz ebenso wie in Braun. Dann war Schluss, um individuellen Verbraucherwünschen mehr entgegenzukommen. „Trotz der Tatsache, dass sie fast vier Jahrzehnte im Handel war, gab es keinen Anreiz, die Lampe zu erneuern oder gar zu veredeln“, erklärt Sokolnikowa. „In der staatssozialistischen Wirtschaft konzentrierten sich die Hersteller mehr auf zu erfüllende Produktionsziele als auf die Bedürfnisse der Konsumenten. Noch bis ins letzte Jahrzehnt der Sowjetunion stießen innovative Anregungen zur Produktgestaltung eher auf Widerstand als auf Begeisterung. Die Plantreue von Staatsunternehmen war das Maß der Dinge.“Sokolnikowas Affinität zu besonderen Lichtquellen hängt nicht zuletzt mit ihrer Vita zusammen. Ihre Großeltern lebten in der Stadt Orechowo-Sujewo, wo die Karbolit-Lampe in Serie entstand. „Als Kind habe ich immer einen großen Teil meiner Sommerferien bei ihnen verbracht. Die Lampe stand auf einem hohen Tisch neben einem Ohrensessel, in dem mein Großvater zu lesen pflegte. Wenn ich Freunde in der Nachbarschaft besuchte, sah ich das gleiche Exemplar und manch anderes aus Karbolit, das aus der nahe gelegenen Fabrik stammte. Viele in Orechowo-Sujewo arbeiteten in diesem Werk.“Heute steht die Lampe in einer Reihe mit anderen Ikonen sowjetischer Alltagskultur wie dem Rundfunkgerät „Swesda 54“ mit seinem wohlbekannten roten Stern auf der Frontplatte oder dem Staubsauger „Tschaika“ (Möwe), der wie ein Raumschiff aus der Flash-Gordon-Fernsehserie der 1950er Jahre aussieht. Lange Zeit war nach 1989/90 das Interesse an überliefertem Industriedesign aus dem ehemaligen Ostblock gering. Im laufenden Jahr hielt Sokolnikowa die Zeit für gekommen, um die groß angelegte Exposition Retrotopia. Design for Socialist Spaces im Kunstgewerbemuseum Berlin zu kuratieren. Darüber hinaus deuten neue Bücher wie Comradely objects von Yulia Karpova sowie Soviet Design. From Constructivism to Modernism. 1920 – 1980 von Kristina Krasnyanskaya und Alexander Semenov (beide Werke wurden 2020 veröffentlicht) darauf hin, dass sich einiges ändert und durchaus Wertschätzung für den beinahe zeitlosen Wert von Alltagsgegenständen wie der Karbolit-Lampe vorhanden ist.Karbolitlampe ist Requisit in vielen sowjetischen SpielfilmenWenn man ganz oben an deren Schirm reibt, werden die Konturen des eigenen Gesichts auf dem schwarzen Kunststoff deutlicher. Die Frage drängt sich auf, welche anderen Silhouetten oder Situationen die Oberfläche gespiegelt hat, seit Fabrikarbeiter die Lampe zusammenschraubten und ins Land hinausschickten. Vielleicht waren es gefeierte Schauspieler wie Wera Alentowa oder Alexei Batalow? Am Ikonen-Status der Leuchte hat die Tatsache Anteil, dass sie als Requisit in vielen der beliebtesten sowjetischen Spielfilme aus den 1960er und 1970er Jahren auftaucht. „Ich denke da an Werke wie Vorsicht, Autodieb!, Moskau glaubt den Tränen nicht oder Die schwarze Katze. Sie sind von der Ausstattung her so authentisch, dass die Karbolit-Lampe stets irgendwo im Hintergrund zu sehen ist“, erzählt Aljona Sokolnikowa.Darüber hinaus könnte das glänzende Material einige subalterne Diener des Sowjetkommunismus festgehalten haben, etwa Ermittler und Kommissare, die auf ihren Schreibtischen die Leuchte ein- und ausschalteten. Oder eifrige Staatsbeamte, bei denen der Lichtschein auf das Deckblatt der Fünfjahrpläne fiel. Die erste Karbolit-Lampen tauchten auf, als in den frühen 1930ern die Turboindustrialisierung des Landes mit dem Entstehen einer neuen Bürokratie zusammenfiel. Expandierende Behörden waren damit beschäftigt, den Staatssozialismus in seiner stalinistischen Variante zu verwalten. Die Lampe half dabei. In Büros, Postämtern, Bibliotheken, Arztpraxen und auf Lehrerpulten erhob sie ihren Kopf. In Ministerien, Instituten und Universitäten zeigte sie ihr unverkennbares Profil. Selbst Josef Stalin hatte sie in seinem Arbeitsraum im Kreml stehen. Die Formgebung symbolisierte Moderne, Fortschrittsgläubigkeit, Rationalität und Effektivität, die damals hoch im Kurs standen.Wenn man aber ein zweites Mal über den schwarzen Kunststoff reibt, entsteht möglicherweise ein vages Gefühl. Eben weil sie so viel Zeitgeist in sich trägt, haftet der Lampe auch etwas Unheilvolles an, das sich nicht so leicht unterdrücken lässt. Schließlich geht der Beiname „NKWD-Lampe“ auf eines der finstersten und gefürchtetsten Ämter jener Zeit zurück, den sowjetischen Inlandsgeheimdienst. Aljona Sokolnikowa meint, die Vernehmer hätten die Lampe häufig benutzt, wenn sie Verhaftete verhörten. „Der Schirm konnte hochgeklappt werden und es lange bleiben, sodass die Menschen schmerzhaft geblendet waren.“„Klick.“ Den Schalter nur kurz berühren, und das Licht verschwindet, der Nacht gehorchend, in der zumeist verhört wurde.
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