Auf der Pulverspur

DIE LEBENSLINIEN DES EX-NVA-OFFIZIERS UWE SILGE Sie trafen sich auf den Minenfeldern Afrikas - doch dann kam der 24. Mai 1997

Eine Legende ist zu Besuch. Keiner hat es bemerkt. "Isser wieder da?", fragt die Frau zurück, die ich nach dem "Silge, Uwe" frage. Dabei fällt in Lothra jeder Gast sofort auf. Das Dorf in Thüringen ist so klein, dass am Ortsausgang im Autoradio noch derselbe Stau gemeldet wird, von dem schon beim Ortseingangsschild die Rede war.

Auf die Spur des Thüringers Silge stieß ich 1994 - dreieinhalbtausend Kilometer südlich von Lothra. In der ruandischen Hauptstadt Kigali, die gerade einen barbarischen Bürgerkrieg überstanden hatte, wurde eines Abends im Hotel ein französisches Fernsehteam vermisst. Wie sich bald herausstellte, hatte eine Mine dessen Jeep zerfetzt. "Dieser Ostdeutsche mit seinem Panzer müsste her", meinte damals eine Journalistin aus Wien, "dann wäre die Straße hier in ein paar Tagen frei." In Angola habe der Mann wahre Wunder vollbracht.

Diesen Wundertäter zu benennen, war leicht: Als einzige deutsche Hilfsorganisation unterhielt Mitte der neunziger Jahre das Deutsche Notärztekomitee Cap Anamur ein Minenräum-Kommando in Angola. Als logistischer Kopf der Truppe galt Uwe Silge - Ex-NVA-Offizier und Sprengtechniker. Ihn zu treffen, war über Jahre kaum möglich. Silge führte ein Leben auf den Minenfeldern Afrikas.

Heute kämpft er in Thüringen um 1.100 Mark Invalidenrente. Nur deshalb sitzt er am elterlichen Küchentisch in Lothra: "Sonst hält mich hier nichts ..."

"Gehen Sie zur ›2000‹, dort erhalten Sie Ihre Fahrkarten ..."

Silges Karriere bei der Nationalen Volksarmee (NVA) beginnt 1978 beim "Pionierbataillon 4" in Bad Salzungen. Dort befehligt Leutnant Silge die "Kernminen-Einheit" - eine Elitetruppe aus Aufklärern, Fallschirmjägern und Pionieren, deren Aufgabe es ist, im "Ernstfall" atomare "Rucksackminen" der NATO zu entschärfen. Doch Silge passt nicht recht ins Raster der Arbeiter-und-Bauern-Armee - er bleibt stur parteilos, als einziger Offizier des damaligen Militärbezirks Süd, wie er sich erinnert. "Nicht, dass ich an der DDR oder am Sozialismus gezweifelt hätte. Mir wollte nur nicht einleuchten, dass die Gefechtsstärke eines T-76-Panzers mit der grundsätzlichen Überlegenheit der sowjetischen Rüstungsindustrie zu begründen war ..." Als Silge beginnt, über die "panzerbrechende Wirkung des roten Sterns" zu witzeln, bleibt das zunächst ohne Folgen. Im Sommer 1980 jedoch soll Leutnant Silge eine Dienstreise per Bahn antreten. "Gehen Sie zur ›2000‹", heißt es, "dort erhalten Sie Ihre Fahrkarten." Unter der Bezeichnung "2000" firmiert die NVA-Filiale des Staatssicherheitsdienstes. Als Silge dort vorspricht, wird er verhaftet. Man zeigt ihm einen ganzen Ordner voller Aufzeichnungen. Jeder Ausflug, jeder Gaststättenbesuch, jedes Gespräch ist registriert, seit der Leutnant seinen Dienst in Bad Salzungen begann.

Am 1. März 1981 schließlich - zum "Tag der Nationalen Volksarmee" - wird Uwe Silge zum Soldaten degradiert und entlassen. Begründung: Er habe dem "Ansehen der NVA in der Öffentlichkeit Schaden zugefügt".

Der Gemaßregelte erhält Arbeit beim VEB Handelstransport Bad Salzungen - aus dem Offizier und Geheimnisträger wird ein Spediteur für Mehl, Brot, Zucker, Gemüsekonserven, seltsamerweise mit dem grünen Grenzschein ausgestattet, der Fahrten ins Sperrgebiet erlaubt. "Vielleicht dachten die, sie könnten mich beim Abhauen erwischen." Doch Silge arrangiert sich, und das zweite Leben des Ex-Minenräumers verfliegt wie ein Rausch, als auf Bad Salzungen 1982 die FDJ-Initiative Berlin folgt. Silge verdient gutes Geld, gibt es mit vollen Händen aus, treibt durch die Hauptstadt wie ein Fisch auf der Suche nach einem Köder. Nach Kontakten mit dem Neuen Forum holen ihn am 5. Oktober 1989 drei Herren mit Klappkarte von der Baustelle und liefern ihn in der Stasi-Zentrale ab. Aber Endzeitstimmung und Wirren der siechen DDR verhelfen Silge zur Flucht, er taucht unter, einen Monat später fällt die Mauer.

"Können Sie das, Herr Silge?" fragt der deutsche Botschafter

Irgendwann im Frühjahr 1992 tourt Trucker Silge mit einer Ladung Futtermittel durch das Ruhrgebiet, als im Autoradio ein Interview mit dem Grünen-Politiker Siegfried Martsch über das Minenräum-Projekt von Cap Anamur in Angola gesendet wird. Silge hört mit wachsendem Unbehagen zu. "Der Mann hat soviel Unsinn geredet. Ich dachte mir, wenn der das Sagen hat, dann Gute Nacht." Er greift zum Autotelefon, erklärt Christel Neudeck von Cap Anamur, die Sache werde scheitern, sollte man sie so betreiben, wie gerade geschildert.

Drei Wochen später sitzt Uwe Silge mitten im angolanischen Bürgerkrieg und bereitet 2.500 Tonnen ausgemusterte NVA-Räumtechnik auf den Einsatz vor. Sechs Monate will er bleiben - es werden drei Jahre. Er entmint Zuckerrohr- und Bananen-Plantagen, sieht Kinder auf Beinstümpfen, Städte voller Munition und ohne Trinkwasser. Mit seiner Gruppe - die meisten Ex-NVA-Soldaten - beseitigt er in dieser Zeit 2.600 Tonnen Munition und einige tausend Personen- und Panzerminen. Letztere werden zumeist per Hand entschärft.

1994 führen die Kampfhandlungen zwischen der Regierungsarmee und den UNITA-Einheiten (*) im Norden Angolas zu einer militärischen Pattsituation. In der 10.000-Einwohner-Stadt Cubal sitzen in diesem Augenblick 250.000 Flüchtlinge fest, weil die UNITA für eine Eroberung des Ortes zu schwach, für die monatelange Belagerung aber stark genug ist. Die Delegierten vom World Food Program (WFP) können mit den UNITA-Kommandeuren aushandeln, dass ein Nahrungsmittel-Konvoi vom letzten Posten der Regierungstruppen bis Cubal durchfahren darf. Einzige Bedingung der UNITA: Der Konvoi muss die Strecke an einem Tag schaffen - 52 verminte, mit Auto- und Panzerwracks übersäte Kilometer. Normalerweise gelten 500 Meter pro Tag als Limit für die einen solchen Tross abschirmenden Minenräumer. "Können Sie das, Herr Silge?" fragt der deutsche Botschafter.

Im Basiscamp Shagongo baut Silge in wenigen Tagen einen gewöhnlichen Räumpanzer des Typs KMT-5 zu einem monströsen Gefährt mit einem Gewicht von 63 Tonnen um, das sich mit einer Geschwindigkeit von sechs Kilometern pro Stunde vorwärts bewegen kann. Nach dem Transport in Richtung Cubal lässt Silge am "Tag X" mit dem ersten Morgenlicht die Motoren aufheulen und fährt los. Erinnern kann er sich heute nur noch an die mörderische Hitze und ein "gelegentliches Rütteln" im Inneren des Panzers, verursacht durch explodierende Minen, von der Straße geschobene Lkw-Kadaver und ausgebrannte Schützenpanzer. Nach zwölf Stunden erreicht die Kolonne mit den Lebensmittel- und Medikamenten-Containern des WFP die belagerte Stadt Cubal.

Danach häufen sich in Angola die Überfälle auf Hilfsorganisationen. Im Juli 1995 stoppt die deutsche Botschaft das Projekt von Cap Anamur. In Silges Truppe sind neun Mann ums Leben gekommen - die meisten durch Bandenübergriffe, nicht durch Minen.

Seine Frau Akosua, eine Ghanaerin, holt Silge trotzdem zunächst nach Angola. Den bisherigen Haushalt in Deutschland löst er auf. Danach heißt der Hauptwohnsitz der Familie Silge: Kamisura in Ghana.

Krohn wehrt ab: "Du bist doch nichts mehr wert ..."

Nach Angola 1992 bis 1995 und einem Einsatz in Bosnien 1996 heuert Silge bei dem deutschen Minenräum-Unternehmer Walter Krohn in Mosambik (**) an. Dessen "modifizierte Bodenfräse" gilt als bestes Equipment gegen Anti-Personen-Minen. Am Morgen des 24. Mai 1997 ist Silge auf einem Gelände in der Nähe von Maputo damit beschäftigt, freie Bahn für die Fräse zu schaffen. "Stacheldraht am Rand eines Minengürtels musste weg. Außerdem standen an der Seite ein paar Bäume, wo Sprengladungen oder projektilbildende Minen hätten versteckt sein können."

Silge kommt gut voran und kann die ersten Splitterkörper aus dem Boden holen. Regen hat die Erde in Senken rutschen lassen, mit ihnen die tödliche Fracht. "Minen können sich in den Tropen unglaublich weit bewegen ..." In einer Vertiefung liegen sie dicht an dicht. Silge beginnt, die Sprengkörper frei zu legen, schraubt Zünder heraus, setzt den linken Fuß an die Stelle, von der er gerade eine Mine geborgen hat - und der Boden explodiert.

"Schmerz habe ich keinen gespürt. Nur das Blut gesehen, das mir aus der Hose lief ..." - Silge muss heraus aus dem Minenfeld. Den Weg, den er bis zur Senke zurück gelegt hatte, kann er nicht mehr erkennen. Also kriecht er, den Metalldetektor vor sich her schiebend, mühsam zur Straße. 90 Minuten später liegt er auf dem OP-Tisch eines Hospitals in Maputo. Der linke Unterschenkel muss amputiert werden. Gegen die vollständige Erblindung des linken Auges und die Taubheit des rechten Ohres können die Ärzte nichts tun.

Nach ein paar Tagen kommt Krohn zu Besuch. Silge mahnt den schriftlichen Arbeitsvertrag an, zu dem bisher keine Zeit war. Krohn wehrt ab: "Du bist doch nichts mehr wert." Nach 17 Tagen verlässt Silge das Krankenhaus mit offenem Beinstumpf und arbeitet weiter. Er braucht das Geld, um die Operation zu bezahlen. Mehrfach täglich wechselt er die blutigen Verbände. Dann steht ein Besuch des damaligen Außenministers Klaus Kinkel an. Zwei Tage zuvor drückt Krohn dem Thüringer ein Flugticket in die Hand: "Verschwinde!" Sein ausstehendes Honorar wird ihm der Minenräum-Unternehmer erst viel später zahlen.

Zuhause in Deutschland folgt endlich die dringend gebotene medizinische Nachbehandlung. Silge bekommt eine Prothese. "Damit konnte ich wenigstens auf's Amt gehen und mich arbeitslos melden." Noch einmal fliegt er für Cap Anamur nach Angola, um das 1995 gestoppte Minenräum-Projekt ordentlich "abzuwickeln". Als er wieder in Deutschland ist, hat sich die Bürokratie nur wenige Zentimeter bewegt. Die Berufsgenossenschaft zahlt vorerst nicht; man müsse noch einiges zum Fall prüfen, heißt es. Wenigstens erhält Silge nun eine Berufsunfähigkeitsrente von der BfA: Etwa 1.100 Mark. Knapp über dem Sozialhilfesatz. Dafür muss er alle paar Monate per ärztlichem Befund nachweisen lassen, dass sein Bein nicht nachgewachsen ist.

Danach lebt Silge wieder in Ghana. Akosua, seine Frau, hat einen Kosmetiksalon eröffnet - Silge selbst versucht sich als Tourismusunternehmer, der mit einem zum Wohnmobil ausgebauten "Tatra"-Lkw Amerikaner, Engländer oder Japaner durch die Reservate des Digya-Nationalparks schaukelt. Startkapital von 25.000 Mark kam als Zuwendung vom Auswärtigen Amt, nachdem Silge per Brief an Klaus Kinkel um "Unterstützung für einen Deutschen" gebeten hatte, der "Zehntausenden das Leben rettete" und als einzige Auszeichnung auf den Titel "Thüringer des Monats" verweisen kann - verliehen vom Mitteldeutschen Rundfunk 1996.

"Minenräumen ist doch das, was ich kann ..."

Bei Christel Neudeck von Cap Anamur meldet sich Silge immer noch, wenn er wieder einmal in Deutschland ist. Eine neue Beschäftigung wird ihm die Organisation allerdings nicht anbieten. "Der Uwe ist ein Minen-Spezialist, wie es vielleicht keinen zweiten gibt", erklärt mir Frau Neudeck am Telefon. Doch leider sei die Entwicklung der "verbreitetsten Waffe der Welt" seit Silges letztem Räumeinsatz 1997 in Mosambik "weit fortgeschritten", der "Sprengmeister" vermutlich nicht mehr auf dem neuesten Stand. Überhaupt sei Cap Anamur ganz froh, keine eigenen Minenräum-Projekte mehr betreiben zu müssen: "Es gibt inzwischen genug Organisationen, die so etwas sehr professionell machen."

Das weiß auch Silge. "Wenn es um ein Krisengebiet geht, dann marschieren inzwischen die Hilfsorganisationen dorthin wie auf einen Markt. Und zwar mit dem Besten, was sie haben. Da hast du als Einzelkämpfer mit einer Ausrüstung vom Bundeswehr-Schrottplatz keine Chance." Gleichwohl, er würde es wieder tun, wenn man ihn riefe: "Minenräumen ist doch das, was ich kann."

Es ist spät geworden in Lothra. Der untersetzte Mann mit dem weißblonden Haarkranz fröstelt, als eine Herbstböe Blätter auf den Feldweg wirft. Wir gehen ins Dorf zurück. "Ferienhaus Richter" steht am Giebel hinter einer mustergültig gepflasterten Auffahrt. Frau Richter - Silges Schwester - hat, als wir sein Elternhaus verließen, nur gefragt: "Na, wieder mal da?" Uwe, der Sprengmeister, findet keinen Draht mehr "zum Leben daheim". Er mag sich nicht einrichten im nahtlosen Übergang von FDGB-Feriendienst zur "gemütl. Fewo m. Du., Sat-TV". Und er fährt seine Mutter an, als die ihn auffordert, doch "von denen" Entschädigung zu verlangen für seine abgeschnittenen Leben und Gliedmaßen.

Als Gürtel trägt Silge ein altes NVA-Koppel. Mit dem Emblem nach unten. Früher als geplant will er zurückfliegen nach Ghana. Dort warten Akosua und die Zwillinge, die sie Ende Februar gebären wird. An Deutschland habe er keine Wünsche, sagt er. Doch, den einen schon, dass er nicht mehr so oft kommen müsse ...

(*) Bürgerkriegspartei in Angola, kämpft seit 1975 gegen die MPLA-Regierung.

(**) In Mosambik gab es bis zum Pakt von Rom 1992 einen 16jährigen Bürgerkrieg zwischen der FRELIMO-Regierung und der von Südafrika unterstützten RENAMO.

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