Ausschau nach Schüblingen

Bürokratie in Thüringen Weil ein vietnamesischer Vater nicht arbeiten durfte, soll die Familie nun abgeschoben werden

Völkerball. Am liebsten spielt Xuan Völkerball auf dem Schulhof in Siemenrode. "Du musst gut werfen können", sagt Xuan, "und flink musst du sein. Wegducken oder fangen. Wenn der Ball dich trifft, biste raus."

Doch den Ball am 1. November vorigen Jahres hat Xuan nicht fangen können. Das Geschoss kam per Post, Wegducken sinnlos: Für "nach dem 3. 12. 2001", so der Brief an die Eheleute Khac Trong Ta und Thi Lien Huong Luu, kündigte die Ausländerbehörde des Eichsfeld-Kreises in Thüringen die "Rückführung in die Sozialistische Republik Vietnam" an. Abschiebung. Ausgefertigt an Allerheiligen in Heiligenstadt. Betroffen: Frau Luu und Herr Ta, beide Anfang dreißig, Sohn Xuan ist neun, die Tochter Ly Lan acht Jahre alt.

Geduldetes Leben in einem Land, in dem sie ihre Freiheit finden wollten


"Es war ein Schock, als das Schreiben kam", erinnert sich Frau Luu, "mir ist dunkel geworden im Kopf". Schließlich lief doch noch ihr Widerspruch gegen den Bescheid vom November 2000, mit dem sie durchsetzen wollten, als so genannte Altfälle anerkannt zu werden und damit bleiben zu dürfen. "Geduldet", wie es in der ebenso kalten wie furchtbar treffenden Amtssprache heißt. Geduldetes Leben in einem Land, in dem sie ihre Freiheit finden wollten.

Man muss, um einen solchen Fall begreifen zu können, ein paar Schritte hineintun in den Dschungel deutschen Asylrechts. Die Eheleute Ta und Luu sind vietnamesische Staatsbürger, ihre Kinder, gleichwohl in Thüringen geboren, auch. Frau Luu und Herr Ta sind 1991 nach Deutschland eingereist und beantragten Asyl. Sie hätten, sagt Frau Luu, in ihrer nordvietnamesischen Heimat ihren Glauben nicht frei leben können. Sie kommt aus einer streng buddhistischen Familie, er ist Katholik. Als sie einmal als Schülerin an einer Demonstration für Glaubensfreiheit teilnahm, war sie für 24 Stunden ins Polizeigefängnis gekommen. "Das vergisst man nicht." Zum Hochschulstudium wurde sie nie zugelassen.

Deutschen Behörden offenbar nicht Grund genug: Die Asylanträge wurden 1994 und 1995 abgelehnt.

Für eine "Rückführung" der schätzungsweise 35.000 nicht anerkannten vietnamesischen Asylbewerber, die in der Bundesrepublik leben, gibt es vor allem ein Hindernis: Vietnam selbst. Der Staat will seine Bürger nicht zurück - aus finanziellen und politischen Gründen. Deutschland aber machte 1995 Entwicklungshilfezahlungen und Exportbürgschaften von der Unterschrift der vietnamesischen Regierung unter das Rückübernahmeabkommen abhängig. Deutsche Menschenrechtsgruppen bezeichneten diese zwischenstaatliche Erpressung - 100 Millionen Mark Entwicklungshilfe gegen 40.000 "Rückübernahmen" - damals als Skandal. "Menschenhandel" wäre wohl die treffende Bezeichnung.

Jedoch wurde das Abkommen nur schleppend umgesetzt, was auch der vietnamesischen Bürokratie zu verdanken ist. Vietnam vergleicht in einem umständlichen Listenverfahren die Angaben, die Vietnamesen hier über ihre Person, ihre Eltern, ihren letzten Wohnsitz in Vietnam oder ihren Fluchtweg machen, mit den Daten in seinen Einwohnerregistern. Nur bei völliger Übereinstimmung ist die Wiederaufnahme möglich. Bis Mitte vergangenen Jahres haben die vietnamesischen Behörden lediglich rund die Hälfte der Ersuchen von deutscher Seite mit der Zustimmung zur Rückübernahme beschieden (19.331 von 34.756). Daraufhin wurden fast 8000 Personen nach Vietnam "rückgeführt", da die übrigen Betroffenen inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis bekommen hatten, freiwillig ausgereist oder untergetaucht waren. Den von Hanoi abgelehnten Rückkehrkandidaten verweigert Deutschland ein Bleiberecht.

Von der zwangsweisen Heimkehr ausgenommen werden "Altfälle", wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, die von den Innenministern der Länder letztmalig 1999 fixiert wurden. Dazu gehören unter anderem der Nachweis eines ausreichenden Einkommens, Wohnraums und der eigenen Haushaltsführung am Stichtag 19. November 1999. Zudem müssen Betroffene straffrei sein und dürfen ihre "Rückführung" nicht etwa dadurch behindert haben, dass sie falsche Angaben gemacht haben. Im Unterschied zu anderen Bundesländern, die diese Kriterien durch eigene Anordnung teilweise relativiert haben, hält Thüringen an einer buchstabengetreuen Umsetzung fest.

Für die Ausländerbehörden im Freistaat sind die vietnamesischen "Altfälle" ein beschwerlicher Acker. Einerseits sind sie wegen des "Rückübernahmeabkommens" in der Pflicht, nach "Schüblingen" Ausschau zu halten.

Andererseits kommen sie wegen des Listen-Verfahrens der bremsenden vietnamesischen Bürokratie und auch wegen differierender Rechtslage in den Ländern, die von Anwälten für Widersprüche genutzt wird, kaum voran. "Ein ständiges Ärgernis", stöhnt ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde einer kreisfreien Stadt, "man kommt sich vor wie ein Hamster im Laufrad".

Zurück im Kreis Eichsfeld. Am 13. November 2000 teilt die Ausländerbehörde Frau Luu und Herrn Ta mit, dass sie keine bleibeberechtigten "Altfälle" seien. Erster Grund: Herr Ta habe zum Stichtag 19. November 1999 kein Arbeitsverhältnis nachweisen können. Stimmt, zu diesem Zeitpunkt besitzt er nur eine Einstellungszusage vom Chef des Restaurants "Thai" in Leinefelde. Der und Herr Ta bemühten sich zwar beim Arbeitsamt um die Arbeitserlaubnis. Doch auch hier mahlen die Mühlen langsam: Erteilt wurde sie erst im Februar 2000. Ohne Erlaubnis keine Arbeit, ohne Arbeit kein Bleiberecht. Hätte Herr Ta ungenehmigt gejobbt, hätte er sich strafbar gemacht - und noch einen Minuspunkt bei der Behörde gehabt.

Als er dann durfte, hat der gelernte Koch monatlich 1886 Mark netto verdient und damit die Familie ernährt - bis Ende Oktober 2001, als ihm die Ausländerbehörde jegliche Erwerbstätigkeit verbot. Kurz darauf folgte die Ankündigung der Abschiebung. Formal alles rechtens.

Einen zweiten Verstoß benennt die Behörde zudem: Frau Luu soll falsche Angaben zur Adresse ihres Vaters gemacht haben. Sie wiederum ist überzeugt, bei der ersten Befragung die korrekten Daten genannt zu haben. Möglicherweise schlampten dann vietnamesische Behörden oder ihr Vater hatte Angst, sie zu bestätigen. Angehörigen von Landesflüchtlingen geht es in Nordvietnam nicht so gut. Jedenfalls hat Frau Luu bei der zweiten Befragung - wie die erste ohne Dolmetscher - die Dienstadresse ihrer Mutter angegeben. Für die Behörde ein klarer Fall: "Vorsätzliche Verhinderung der Aufenthaltsbeendigung durch falsche Angaben zur Person." Also kein Bleiberecht. Die Rechtsmittel, die die Anwältin Renate Skaper eingelegt hat, sind ausgeschöpft. Es bleibt nur noch das Bitten, "unsere gesamte Situation humanitär zu berücksichtigen", wie es Herr Ta am vorigen Mittwoch in einem Offenen Brief an Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) formuliert hat. Ein Gnadengesuch, mit dem sich Vogel wohl nicht lange aufgehalten hat. Das Schreiben sei weitergeleitet worden an den Ausländerbeauftragten Thüringens, teilt der Regierungssprecher tags darauf mit.

In der SPD-Landtagsfraktion ist man auf den Fall aufmerksam geworden und sichert "politische Unterstützung" zu. Einstweilen heißt das: Die Abschiebung wird Thema im Petitionsausschusses am 14. Februar.

Es bleibt nur noch das Bitten, die gesamte Situation humanitär zu berücksichtigen


Familie Ta/Luu wohnt seit vergangenem Freitag wieder im Asylbewerberheim Breitenworbis. Die Woche zuvor lag Frau Luu im Krankenhaus. Sie hat Magenprobleme, ist schwer depressiv und weint viel. "Manchmal möchte ich einfach nur sterben", schluchzt sie dann hinter vorgehaltener Hand. Die Kinder, eben noch quengelnd vor Langeweile, lehnen mit nassen Augen an ihrer Schulter, versuchen sie zu trösten: "Mama, nicht weinen."

Ein paar Tage später wird Frau Luu ins Psychiatrische Krankenhaus Mühlhausen eingeliefert. Die Erkrankung wird die Abschiebung verzögern, bis der Amtsarzt Reisefähigkeit attestiert, erläutert der Zuständige vom Ausländeramt in Heiligenstadt. Die neue "Duldungsbescheinigung" gibt sechs Wochen Frist. In aller Regel wird auch abgewartet bis der Petitionsausschuss sich geäußert hat. Etwas Zeit scheint gewonnen, mehr nicht. Denn Rabea Brauer, Pressesprecherin des Innenministers, hat schon deutlich gemacht, dass die Landesregierung sich auch weiterhin penibel an die Kriterien der Länderministerkonferenz halten wird. "Es gibt keine Härtefallregelung", sagt sie.

Die Abschiebung ganzer Familien ist in Thüringen kein Einzelfall. Zwischen Januar 1999 und dem 30. Juni 2000 wurden 690 abgelehnte Asylbewerber "rückgeführt", darunter 89 Kinder. Über 300 "Schüblinge" saßen vor dem erzwungenen Heimflug in "Sicherungshaft".

Ly Lan mag Werken, wie ihr Bruder. Vor Weihnachten haben beide mit der Laubsäge der Mutter ein Geschenk gemacht, weil sie oft so traurig ist. "Eine Kirche mit so Obst davor", erklärt der Junge. Keine Palmen oder Reisbüffel. Vietnam kennen sie nur vom Erzählen. Ly Lan kichert, als sie sagt, dass ihr Vater sich "Toni" rufen lasse, weil das den Deutschen leichter fällt. Die letzten Tage konnten sie nicht zur Schule gehen, weil die Mutter im Krankenhaus lag und der Vater viel unterwegs war. Frau Luu ist erleichtert, dass Xuan und Ly Lan wieder zu ihren Freunden können. "Egal, wo Kinder geboren sind, ob in Vietnam, Afghanistan oder Deutschland - sie haben keine Schuld. Sie müssen leben und lernen dürfen in Freiheit."

Xuan freut sich, wieder mit seinen Freunden Völkerball spielen zu dürfen. Wie lange noch, entscheiden andere.

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