40 Jahre Tief im Westen: Zehn Fakten über Herbert Grönemeyers „Bochum“

Ruhrpott Ohne dieses Album wäre Grönemeyer kein Megastar geworden. Ji-Hun Kim wuchs wie Herbie im Ruhrgebiet auf – mit Opel, Zeche und (der einzig wahren!) Currywurst. Über die Stadt und ein Album, das vor 40 Jahren erschienen ist: Das Wochenlexikon
Ausgabe 19/2024
„Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau“, singen die Fans des VfL Bochum Herbies Zeilen vor den Fußballspielen ihres Vereins
„Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau“, singen die Fans des VfL Bochum Herbies Zeilen vor den Fußballspielen ihres Vereins

Foto: Dominik Asbach/Laif

A

wie Album

Das Album 4630 Bochum war der musikalische Durchbruch für Herbert Grönemeyer. Es ist sein fünftes Album und das erste, das er für das Label EMI veröffentlichte. Seine ersten Platten produzierte er mit Edo Zanki, sie wurden bei Intercord herausgebracht. Das Label schasste Grönemeyer jedoch aufgrund mangelnden Erfolgs. Hätten sie die eine Platte vielleicht noch abgewartet. Wer weiß, wie die Popgeschichte dann verlaufen wäre. 4630 Bochum wurde im Erscheinungsjahr die erfolgreichste Platte Deutschlands, noch vor Michael Jacksons Thriller, hielt sich 79 Wochen in den Charts und ist mit 2,75 Millionen Einheiten eines der meistverkauften Alben des Landes. Als deutschsprachiger Künstler konnte Grönemeyer nur noch sich selbst übertreffen. Mensch von 2002 wurde über drei Millionen Mal verkauft und ist heute das erfolgreichste deutschsprachige Album der Geschichte. So wurde aus dem damals in Stuttgart ansässigen Intercord das hiesige Pendant zu Decca, das 1962 die Beatles nicht unter Vertrag nahm.

B

wie Barde

Herbert Grönemeyer wurde 1956 nicht in Bochum, sondern in Göttingen geboren. Seine Eltern lebten in Clausthal-Zellerfeld, zogen aber im Folgejahr nach Bochum, weil Vater Wilhelm, gebürtiger Westfale, dort als Bergbauingenieur Arbeit fand. Der junge Herbert ging im Gymnasium am Ostring zur Schule und lernte dort seinen langjährigen Freund, den späteren Schauspieler Claude-Oliver Rudolph, kennen. Sie spielten zusammen im Film Das Boot und heuerten auch im Schauspielhaus an. Grönemeyer schämte sich nie für seine Heimat, was ihn bald zum „Ruhrpott-Barden“ machte, ein Image, von dem er sich mühsam befreien musste. Schon vor 4630 Bochum ist das Ruhrgebiet immer wieder Thema. Mal eskapistisch in Stau („Wir wollen vom Ruhrpott nach Wien“), mal in der Auto-Tuning-Hymne Kadett und nicht zuletzt in Currywurst (→ Dönninghaus).

D

wie Dönninghaus

Die beste Currywurst gibt es nicht in Berlin, sondern im Ruhrgebiet. Wie kann man nur eine blasse, form- wie darmlose Farce mit kaltem Ketchup und Currypulver abfeiern. Was soll das? Currywurst besteht aus feinster knackiger Bratwurst und heißer hausgemachter Curry-Tomaten-Soße, und in Bochum führt kein Weg an Dönninghaus vorbei. „Bist du richtig down, brauchste watt zu kau’n, ’ne Currywurst“, sang Grönemeyer 1982 auf seinem Album Total Egal. Damit ist das berühmte Pott-Carpaccio vom Bratwursthäuschen am Engelbert-Brunnen gemeint. Hier gammelten Anfang der 80er die Stadt-Punks ab. Das Union-Kino im Lueg-Haus war bis zur Eröffnung des UCI im Ruhr-Park 1991 das wichtigste Lichtspielhaus der Stadt. Die „Echte“ von Dönninghaus holen sich bis heute alle, die sich zum Picheln ins Bermudadreieck verirren. Der Song wurde übrigens gar nicht von Grönemeyer, sondern von Diether Krebs, Horst-Herbert Krause und Jürgen Triebel geschrieben. Herbert mag angeblich keine Currywurst. Hochverrat.

F

wie Flugzeug

Das → Album 4630 Bochum ist voller Hits. Der schönste Song ist Flugzeuge im Bauch. Grönemeyer beweist hier schon, dass gar nicht Rock sein eigentliches Metier ist, sondern er immer dann Größe zeigt, wenn er Balladen schreibt. Bochums bekanntestes Flugzeug ist wahrscheinlich die ausrangierte F-86 Sabre, die vor der Zentrale des Wattenscheider Auto-Tuning-Handels D&W steht. Ohne D&W hätte es im Ruhrgebiet keine Fuchsschwänze, Rallyestreifen und somit auch keine Manta-Witze und Manta-Filme gegeben. Jedes Auto, das über den Ruhrschnellweg A40 fuhr, das waren viele, passierte den amerikanischen Düsenjet aus den 50ern, der nicht nur unzählige Kinder auf den Rücksitzbänken begeisterte. Seit 2010 wird das Flugzeug von einer sechs Meter hohen Lärmschutzwand verdeckt. D&W ist bis heute unglücklich über diese Schutzmaßnahme.

O

wie Opel

Als Grönemeyer vor 40 Jahren noch von Grubengold, „Glück auf“ und verstaubten Sonnen sang, hatte Bochum schon elf Jahre lang keine Kohle produzierende → Zeche mehr. Bochum war eine der ersten Ruhrgebietsstädte, die sich wirtschaftlich umorientierten, und es war der Autobauer Opel, der 1963 die Schicht im Schacht kompensierte und für Arbeit und Wohlstand in der Region sorgte. Viele ehemalige Bergarbeiter kamen aus den Flözen an die Fließbänder und bauten ikonische Autos wie den Opel Kadett/Astra, den Opel GT und den Proletenflitzer Manta. Nach mehr als 50 Jahren lief im Dezember 2014 der letzte Zafira vom Band. Seitdem klafft nicht nur städtebaulich ein riesiges Loch. Die Stadt versucht, auf dem gigantischen Areal „urbanes Flächenrecycling“ zu betreiben. Es konnten fünf Forschungsinstitute und 28 Unternehmen angesiedelt werden. Ohne die großen „Malocher“-Industrien tut sich das Ruhrgebiet schwer, eine neue Identität zu entwickeln. Oder um es mit Frank Goosen zu sagen: Woanders is’ auch scheiße.

P

wie Pop Corn

Gibt es einen noch größeren Musiker aus Bochum? Wenn es um den internationalen Einfluss geht, gäbe es einen Namen: Gershon Kingsley, geboren als Götz Gustav Ksinski, kam 1922 in Bochum auf die Welt und wuchs in Essen und später Berlin auf. Im Alter von 16 Jahren floh er vor Nazideutschland erst nach Palästina, 1946 zog er in die USA. Kingsleys großer Erfolg ist Pop Corn von 1969, der erste Synthesizer-Hit der Welt, lange vor Kraftwerk. Mit dem First Moog Quartet war er der Erste, der mit Moog-Synthesizern live auftrat. Ein elektronischer Pionier. Pop Corn wurde unzählige Male gecovert. Am kommerziell erfolgreichsten war die Version von Hot Butter von 1972. Zu der Zeit lebte Kingsley schon wieder in Deutschland und komponierte unter anderem für das ZDF Titelmelodien für Merlin und die Quizshow Die Pyramide. Er starb 2019 in New York.

R

wie Ruhr-Uni

Die Ruhr-Universität Bochum war die erste Universitätsneugründung in der Geschichte der Bundesrepublik und die erste Uni im Ruhrgebiet. Sie ermöglichte den Bildungsaufstieg zahlreicher Arbeiterkinder. Der Lehrbetrieb startete 1965. Die Campus-Uni entstand im Stadtteil Querenburg und ist ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen gut gemeintem architektonischen Konzept und Praxistauglichkeit. Wie ein Hafen des Wissens wurde der Komplex geplant, die Institute liegen wie Schiffe an, das Audimax eine riesige Muschel, die Mensa so kuschelig wie ein Flughafenterminal. Im Winter deprimiert die schiere graue Betonmasse und Mitte der 70er manifestiert sich der Mythos, dass die Bochumer Uni die mit der höchsten Selbstmordrate sei, was allerdings nie bewiesen werden konnte. Die Zeit sinnierte über die „apathische“ Alma Mater: „Gebäude mit Balkons, die niemand betritt. Fenster, die niemand wäscht, Professoren, die niemand kennt, 19.600 Studenten, die niemand tröstet.“ Auch Grönemeyer studierte hier ab 1975 Musik- und Rechtswissenschaften, brach aber nach fünf Semestern ab.

S

wie Schauspielhaus

Das Schauspielhaus war und ist eines der wichtigsten Theater im Lande und wie die Uni eine Institution, die für den Strukturwandel in der Nach-Kohle-Ära steht. Grönemeyer profitierte davon. Er begann dort mit 18 als Korrepetitor, schrieb erste Kompositionen und wurde unter Peter Zadek mit gerade mal 20 Jahren musikalischer Leiter des Hauses. Ein steiler Einstieg. Zu der Zeit begann er auch mit der Schauspielerei und arbeitete zudem mit Pina Bausch, obwohl er nie Schauspielschule oder Konservatorium besuchte. 1979 sollte ein anderer Großer des Theaters, Claus Peymann, Grönemeyer ans Württembergische Staatstheater in Stuttgart ebenfalls als musikalischen Leiter berufen. Diese Zusammenarbeit dauerte nur wenige Monate. Wäre 4630 Bochum nicht so erfolgreich geworden, Grönemeyer hätte wohl Karriere in Theater und Film gemacht.

V

wie VfL

Tradition spielt im Ruhrgebiet eine besonders aufgeladene Rolle. Das zeigt sich auch beim Fußballverein VfL Bochum. Auf dem Wappen prangt zwar stolz die Jahreszahl 1848. Gegründet wurde der Verein jedoch erst im Jahr 1949. Die Heimspielstätte, das Ruhrstadion „anne Castroper“, wird auch liebevoll Schmuckkästchen genannt, weil es klein, intim ist und mit einer englischen Atmosphäre begeistert. Sportjournalist Matthias Bossaller nannte es mal das „zweitschönste Stadion der Welt“, hinter dem Giants Stadium in New Jersey, das 2010 abgerissen wurde. Womit das Ruhrstadion nun das schönste der Welt sein müsste. Sorry BVB. Nicht zuletzt hatte Bochum 97/98 das ultimativste Trikot aller Zeiten (mit Regenbogenfarben und Lotto-Werbung). Seit 1992 erklingt vor jedem Anpfiff Bochum,und der Fangesangsorgt spätestens bei der Zeile „machst mit ’nem Doppelpass / jeden Gegner nass, du und dein VfL“ für kollektive Gänsehaut. Alleine dafür lohnt ein Besuch. Grönemeyer selbst wurde erst 2006 Mitglied des Vereins. Natürlich bekam er dieMitgliedsnummer 4630.

Z

wie Zeche

In der ehemaligen Schlosserei der Zeche Prinz Regent eröffnete 1981 die Zeche Bochum, die zur Blaupause für kulturelle Neunutzung in nicht mehr benötigten Industriebauten wurde. In den 80ern und 90ern war sie einer der wichtigsten „Liveschuppen“ und Clubs in Westdeutschland. Vor allem kommende Stars in New Wave, Rock, Punk, Goth, Metal und EBM wurden hier groß gemacht. In der Zeche spielten Depeche Mode, Tina Turner, Chris Rea, R.E.M., Einstürzende Neubauten, Talk Talk, Rio Reiser, Green Day, New Model Army, Run DMC, Rammstein, Die Toten Hosen und Die Ärzte. Legendär ist auch das Rockpalast-Konzert von Herbert Grönemeyer zur Albumveröffentlichung von 4630 Bochum (einfach mal bei Youtube suchen). Viele sagen, dass durch dieses Konzert, das der WDR produzierte, seine große Karriere erst richtig Fahrt aufnahm.

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