Exotisch ist die Oberfläche, nicht die Struktur", hat Claude Lévi-Strauss, Pionier der Feldforschung, jedes mal wieder betont, wenn er den Amazonas und seine Urwaldbewohner verlassen hatte. Der Mensch lacht, weint, liebt und trauert - egal ob er nun am Amazonas lebt, in der Po-Ebene oder jenseits der Elbe - auf die einfache Wahrheit wollte der in die Zivilisation zurückgekehrte Ethnologe hinweisen. Der Glückliche! Lévi-Strauss konnte den Pygmäen Lebewohl sagen. Von den Menschen aus Hinterelbien aber, genau deshalb seit elf Jahren beliebtester und auch ausschließlicher Gegenstand der innerdeutschen Feldforschung, kann man sich im vereinigten Deutschland nicht mehr verabschieden.
Es hätte Nachrichtenwert, an dieser Stelle eine Psychopathologie des Westdeutschen ankündigen zu können. Die Spezies des ossi vulgaris sollte abschließend erforscht sein, könnte man annehmen. Mitnichten. Zwei Bücher erscheinen in diesem Herbst, und schon den Titeln nach könnten sie Fortsetzungsbände des Anderen sein. Wir können nicht besser klagen heißt das eine, Ihr könnt uns einfach nicht verstehen das andere: Zwei wie nebenbei im ostdeutschen Nirgendwo aufgeschnappte O-Töne, um den Alltag zwischen Greifswald und Chemnitz, zwischen Guben und Eisenach auf ein Motto zu bringen. Und sie ergänzen sich sogar, weil das erste sich auf die Beschreibung konzentriert, das zweite praktische Lebenshilfe bieten will.
Doch beide Titel sind eben auch Fortsetzungsbände vieler Titel nach der Wende, die in luftigen Höhen über dem Ostdeutschen an sich kreisen - ein zunehmend problematisches Genre, wie sich zeigt. Denn wer soll dieser Ostdeutsche heute noch sein? Der Mann mit dem Lederol-Hut? Die sächselnde Kassiererin in Böblingen? Wenn solche Attribute nicht vorliegen, fällt es Deutschen zunehmend schwerer, sich nach Ost und West zu taxieren, die Verwechslungen werden immer mehr.
Wer heutzutage also ein Buch über Ost- und Westdeutsche schreibt, muss erst einmal wieder Gräben ziehen. Schon vom Begriff her muss der Ossi zwangsläufig ein Nicht-Wessi sein. So kommt es, dass in vielen Büchern des Genres zwar mit den alten Klischees abgerechnet wird, doch nur um neue Stereotypen zu schaffen. Und das ist besonders fragwürdig, wenn dies in zwei Büchern geschieht, die einen objektiven, wissenschaftlichen Standpunkt vertreten.
Vielleicht aus dieser Einsicht überlässt Manfred Clemenz schon auf den ersten Seiten das Urteil über sein Buch den Lesern, "die einen mehr oder weniger großen Teil ihres Lebens in der DDR verbracht haben". In Wir können nicht besser klagen hat der in Frankfurt am Main lehrende Soziologe eine Sammlung von Porträts vorgelegt, die sich mit Ausnahme einer ehemaligen Leistungssportlerin mit ostdeutschen Standardbiografien beschäftigen. "Dichte Beschreibungen" sollen es sein. Sie sind es, aber nicht im landläufigen, sondern im soziologischen Sinne, wie das ganze Buch sich nicht vom wissenschaftlichen Duktus der Langzeitstudie weg bewegt, die Clemenz durchgeführt hat.
Die dichte Beschreibung ist die zusammenfassende Darstellung eines Interviews, wobei bei Wiedergabe der wichtigsten Zitate versucht wird, auch die psychischen Modulationen des Befragten, Abwehr-, Verdrängungs- und Rechtfertigungsmuster zu protokollieren. Clemenz versteckt sich allzu sehr hinter dieser soziologischen Attitüde. Ein erzählender Gestus aber fehlt, um diese Menschen zu beschreiben. Ohne Mut zum Holzschnitt ist der Leser mit diesen Porträts allein gelassen. Und so kommt der Autor auch nur zu sehr vagen Ergebnissen. Ihm geht es vor allem darum, den Grad der Identifikation mit dem ehemaligen DDR-System, Wandel, Umbruch und die Verortung in der heutigen "gesamtdeutschen" Gesellschaft zu beschreiben. Wundert es, dass Clemenz alle Arten von Anpassung und Ablehnung damals wie heute vorfindet? Dass auch in der DDR die näheren Lebensumstände, Freunde, Familie, Arbeitskollegen Menschen mit eigenen Identitäten ausgestattet haben? Dass es der Feldforscher doch nicht mit hospitalisierten Wesen zu tun hat?
Viel mehr wundert, dass beide Autoren eine Erkenntnis erwähnen, zu der sie bei ihrer Arbeit gelangt sind, dies aber nur in Nebensätzen, und besonders beiläufig Olaf Georg Klein, obwohl er ein ganzes Buch darauf aufbaut. Die ist, dass Ost- und Westdeutsche über 40 Jahre nicht nur in Systemgegensätzen sondern auch in unterschiedlichen Kulturen gelebt haben. Der 1955 in Ostberlin geborene Theologe und Philosoph beschreibt diese auf einer knappen Seite als so dichothon, dass er kurzerhand zu dem Ergebnis kommt, es gebe in Ost und West zwei unterschiedliche Arten von Kommunikationsformen und die Deutschen laborierten noch immer an einem Kommunikationsschock. Und dabei zeichnet der Kommunikationstrainer überaus holzschnitzartig: Wenn Westler das Wort ergriffen, dann offensiv, selbstdarstellend, Positives betonend. Ostler äußerten sich genau andersherum, sagt Klein. Defensiv, nach Gemeinsamkeiten suchend, dabei aber nicht abgeneigt, lieber Negatives zu sehen. Kurzum, der Ossi sieht das Glas lieber halbleer, der Wessi halbvoll, und für die Missverständnisse, die daraus folgen, beschreibt Klein Beispiele aus allen Lebenslagen. Er will das Trennende beschreiben - ein nur zu ehrbarer Vorsatz, beschreibt jedoch nur die Trennung zwischen Ost- und Westdeutschen.
Das Trennende zu beschreiben, den Alltag in der DDR und seine Geschichte, welche Persönlichkeiten diese Lebenswelt hervorgebracht hat, und das meist ohne moralische Wertung, ist vor allem Wolfgang Engler in seinem Buch Die Ostdeutschen gelungen. Vergleicht man alle drei Bücher, fällt die ahistorische Sicht zwei dieser Autoren auf die DDR auf. 40 Jahre sind ein Tag. So sind ihre Bücher wie viele des Genres weniger ein Beitrag zum Verständnis der Ostdeutschen, sondern immer noch mehr zur Selbstverständigung für Westdeutsche.
Manfred Clemenz: Wir können nicht besser klagen. Ostdeutsche Lebensläufe im Umbruch; Aufbau Verlag, Berlin 2001, 307 S.; 36, 90 DM
Olaf Georg Klein: Ihr könnt uns einfach nicht verstehen. Warum Ost- und Westdeutsche aneinander vorbeireden; Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001; 176 S., 29,80 DM
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