Ostberlin gibt es nicht mehr

Verlust der Eindeutigkeit In ihrem Buch "Denn wir sind anders" mokiert sich Jana Simon leise über die West-Generation Golf

Vanille, Schoko, Frucht. Ganze drei Sorten führt die kleine Eisdiele, damals in den achtziger Jahren, in Johannisthal nahe an der Mauer. Frucht? Wahrscheinlich war es ein ziemlich künstliches Aroma, und die Farbe der Eisbällchen wird irgendwo zwischen einem intensiven Zitronengelb und einem matschigen Orange gelegen haben. Vielleicht. Wer kann heute noch sagen, wie die Johannisthaler Sommer kurz vor dem Mauerfall geschmeckt haben? Am ehesten wohl jemand, der hier seine Jugend verbracht hat. Jemand wie Jana Simon beispielsweise, Jahrgang ´72, aufgewachsen in Ostberlin, Reporterin beim Berliner Tagesspiegel, die gerade ihr erstes Buch vorgelegt hat: Denn wir sind anders.
Doch auch sie tut sich nicht leicht. Ihr Alter Ego, einfach "sie" genannt, erinnert sich noch, dass sie sich mit ihrem Freund Felix über die "mehligen Klumpen" in der Eismasse lustig machten, "wahrscheinlich fehlten mal wieder die richtigen Zutaten". Und sonst?
Die kleine Geschichte von der Eisdiele - genau genommen ist es nur ein Absatz - ist gleichzeitig die erste Passage, die eine Anekdote bietet, die im kleinen Detail das große Ganze findet. Und es wird die letzte sein. Und deswegen ist dieses Buch, das sich zu einem großen Teil mit dem Schicksal der ostdeutschen Paralleladoleszenz zur Generation Golf auseinandersetzt, auch ein Gegenentwurf zu den Büchern der Stuckrad-Barres, Illies und Krachts. Das erste Zusammentreffen mit der "Generation Golf" beschreibt Simon so: "Und sie sahen die Gleichaltrigen im Westen, die etwas überhebliche Generation Golf, die ihre Gesellschaftsform als die einzig mögliche ansah, weil sie darin groß geworden war und es für absolut unvorstellbar hielt, dass ihr unfehlbares System einmal untergehen würde."
Deren Bücher leben vom Anekdotischen, vom Ich bis zur Anmaßung, vom voreingenommen scharfen Auge des selbstgerechten Betrachters und der zynischen Ironie einer Sprache, die in Zitaten aus der Popkultur ihre Meisterschaft sieht. Simons Sache ist das nicht, nicht die Pointe, nicht die beste Sprache, nicht der genaue Ausdruck. Vermutlich weil der Autorin die Geschichte zu nahe geht, die sie erzählt, und es ihr vor allem um Authentizität geht. Dann ringt sie um Fragen mehr als Antworten, und es ist das eigentümlich Fragmentarische, das dieses Buch ausmacht. Über ihre eigene Generation in den Wendetagen sagt sie: "Schwerer als der Verlust ihres Landes, das Felix´ Generation nie besonders geliebt hatte, wog für sie der Verlust der Eindeutigkeit." Würde Jana Simon die Geschichte von Felix in zehn Jahren noch einmal aufschreiben - sie wäre eine völlig andere.
Felix ist die eigentliche Figur des Buches. Felix, der Farbige, der Exot in der DDR-Gesellschaft. Felix, der Junge von nebenan mit dem stahlharten Körper, der Kickboxer, der jeden Kampf gewinnt und der immerzu strahlend lächelt. Felix, der verständnisvolle Kumpel, der Freundschaft mit Treue und Loyalität gleichsetzt. Und Felix, der Hooligan, einsam und selbstdiszipliniert. Damit ist dieser Mensch, um den sich dieses Buch auf fast 250 Seiten dreht, aber schon fast beschrieben. Felix spricht wenig, agiert selten. Die Autorin zeichnet ihn nicht nach, sondern trägt Erinnerungen zusammen, die eigenen, die der Familie und die der Freunde vor allem aus der Hooliganszene. Es ist ein Vermächtnis, das sie sich auferlegt hat. Es ist die Frage, warum ihr dieser Mensch so fremd werden konnte, die sie dabei am meisten bewegt, als der Versuch, Felix zu verstehen. Ohnehin: "Es gibt keinen Ort, an dem sie ihre Kindheit wieder finden könnten."
Ihre gemeinsame Biografie hat sich mit dem Mauerfall getrennt. Während sie über Schule, Studium, Auslandsaufenthalten und der journalistischen Arbeit schnell in der Westgesellschaft ankommt, verpasst Felix den Anschluss. Schon in den letzten Tagen der DDR während der Lehre als Maßschneider verdient er nebenbei als Türsteher in Ostclubs. Obwohl er schon wegen seines Aussehens im Westen vermutlich offen aufgenommen worden wäre, bekommt er asthmatische Anfälle, wenn er Ostberlin nur verlässt. Und ist bald, durch seine Unbarmherzigkeit gegenüber sich selbst, Star in einer Szene Bomberjacken tragender Jungen, die sich schlagen um des Schlagens willen und aus der bald die glatzköpfigen Hooligans kommen, die den französischen Polizisten Daniel Nivel bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich fast zu Tode prügeln.
Lange Zeit treffen sich die Beiden, die Schulzeiten einmal miteinander gegangen sind, nur noch ab und zu auf der Straße. Jahre vergehen, die aus seltenen Fragen an der Straßenecke bestehen: "Wie geht´s? Was machst Du?" und dem "Wir sollten uns mal länger auf einen Kaffee sehen." Doch dazu kommt es nicht. Erst auf dem letzten Lebensweg, Felix Milieu hat sich längst weiter stärker kriminalisiert, lebt der Kontakt wieder auf. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich in der Untersuchungshaft - wegen Drogenhandel von einem "Kameraden" denunziert - das Leben nimmt.
Im Kontrast zu der Geschichte von Felix erzählt Jana Simon die von Arnold, dem Großvater, der in den Sechziger Jahren als weißer Kommunist mit einer farbigen Frau aus Südafrika nach Ostdeutschland emigriert ist. Bei den Großeltern hat Felix noch sein Zimmer, seine Eltern, die Eltern dieses ostdeutschen Siebziger-Jahrgangs überhaupt tauchen nicht auf. Die Geschichte der Liebe von Arnold und Jeanette unter dem machtgreifenden Apartheid-Regime, ihrer Flucht nach Europa und Ostdeutschland, ihres Alltags in der DDR, die kann die Autorin ganz anders nacherzählen als die von Felix, ohne Brüche, eindeutiger und viel lebendiger, voller Respekt und auch Bewunderung.
Für Felix hat sie bis zum Ende nur fragenreiche Verwunderung. Auch für seine Eigenart, so treu zu den alten Freunden aus Ostzeiten zu halten. Vielleicht, schreibt Jana Simon zu Beginn, waren sie "so etwas wie eine Versicherung, dass es dieses Leben wirklich gegeben hatte".
Auf den letzten Seiten heißt es: "Es ist vorbei. Ostberlin gibt es nicht mehr." Da ist Felix schon tot.

Jana Simon: Wir sind anders. Die Geschichte des Felix S., Rowohlt Berlin, Berlin 2002, 240 S., 14,90 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

Jörn Kabisch

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