Vielleicht werden wenige, die in diesen Tagen ihren 50. Geburtstag feiern, unter den Geschenken ein Buch mit dem Titel Wir vom Jahrgang 1958 finden. Es handelt sich um einen Band der Reihe "Kindheit und Jugend", einem gleichermaßen identitätsstiftenden wie kommerziell reizvollen Projekt eines findigen Verlages. "Erinnern Sie sich an die ersten 18 Lebensjahre - an Ihre Kindheit und Jugend", heißt es vielversprechend auf der Rückseite des Buches, dessen Inhalt aus einem im kollektiven "Wir" gehaltenen Rückblick auf die Jahre zwischen 1958 und 1976 und vielen Fotos besteht. Da finden sich neben Titelblättern von Micky Maus, Bravo, Plattencovern und zahlreichen anderen zeit- und pophistorisch bedeutsamen Bildern auch Privatfotos, die an Tanzstunden, Fußballtraining, Geburtstagspartys und den ersten Schultag erinnern. Unweigerlich denkt der Betrachter, dass diese Bilder gut aus dem eigenen Familienalbum stammen könnten, so vertraut scheinen ihm die Motive. Kurzfristig glaubt er sogar an die Möglichkeit, eigene Fotos durch die fremden ersetzen zu können, ohne dass selbst er dies bemerken würde, verwirft die Vorstellung aber schnell wieder. Zu häufig hat er in den fernseharmen sechziger Jahren Familienfotos betrachtet, als dass er sich selbst mit einem anderen Kleinkind auf dem Schaukelpferd verwechseln könnte.
Auch der Ich-Erzähler in Hans-Ulrich Treichels erfolgreicher Erzählung Der Verlorene (1998) meint sicher zu wissen, welches von mehreren Kindern, die in einem Wasserbecken planschen, er selber ist. Und dies, obwohl es sich um ein winziges Foto handelt und von ihm nur der Kopf, beziehungsweise ein Teil davon, zu sehen ist. Schließlich "lag auf dem sichtbaren Teil des Kopfes ein Schatten, der wahrscheinlich von dem vor mir stehenden Kind ausging, so dass in Wahrheit nur das rechte Auge zu sehen war". Dass sich der Erzähler dennoch zu erkennen glaubt, ja, dass ihm sein Beinahe-Verschwinden gleichsam zum unveränderlichen Merkmal wird, ist ein Produkt des Neides auf seinen während der Flucht der Eltern aus dem Osten "verlorengegangenen" älteren Bruder Arnold. Der ist nämlich auf einem größeren Foto vorne im Album ganz zu sehen. Und ihm gilt auch das ganze Interesse der Eltern. So empfindet es zumindest der Nachgeborene.
Es ist eine klassische narzisstische Kränkung, die Hans-Ulrich Treichel in Der Verlorene virtuos inszeniert und gleichzeitig ironisch bricht. Denn wer, wenn nicht seine Eltern, von denen er sich so schmählich vernachlässigt fühlt, könnte dem Ich-Erzähler gezeigt haben, wo er auf dem Foto zu finden ist. Und doch erscheint der hier dargestellte Mangel an menschlicher Zuwendung als charakteristisch für die bundesrepublikanischen Aufbaujahre. Die Eltern legen sich für das Wirtschaftswunder krumm, während der Sohn emotional verkümmert.
Der Verlorene war wahrscheinlich auch deshalb ein so großer Erfolg, weil der Text, trotz der ungeheuren Begebenheit, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, auch als Identifikationsangebot für eine ganze Generation funktioniert. Vieles, was dem Erzähler widerfährt, gehört zum Erfahrungsschatz derer, die ihre Kindheit in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verbracht haben. Nicht umsonst lobt das Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur die "präzise nachempfundene Atmosphäre des Kleinstadtlebens und der kleinbürgerlichen Nachkriegsfamilie" als ein "Modellbeispiel für das Deutschland der fünfziger Jahre".
Wie sehr sich aber auch die eigentliche Erzählhandlung der Biographie des Autors verdankt, erläuterte Treichel später in seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung. Erst 1991 sei die Tatsache, dass der tot geglaubte älteste Bruder in Wirklichkeit "verlorengegangen" war, ihm und seinen Brüdern bekannt geworden. Nun wird das literarische Potential eines Erzähltextes nicht größer, wenn man weiß, welche Begebenheit im Leben des Autors zur Gestaltung der Handlung oder der Figuren beigetragen hat. Gerade Der Verlorene wäre hier ein sehr gutes Beispiel. Dennoch ist das Interesse vieler Leser am Zusammenhang zwischen Biographie und Fiktion immer wieder groß. Treichel selbst begründete 2003 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Droste-Preises seinen Unwillen, Interviews zu geben, mit den vorhersehbaren Fragen nach dem autobiographischen Gehalt seiner Bücher. Und tatsächlich versprechen die Antworten auf solche Fragen keine Erkenntnisse, die der Autor nicht schon selbst ungefragt preisgegeben hätte. Denn eines von Treichels Lieblingsthemen scheinen ausgerechnet die Beziehungen zwischen Erzählung und Autobiographie zu sein. Vielleicht, weil sich so trefflich damit spielen lässt.
So präsentierte er in seinem 2005 erschienenen Roman Menschenflug einen Erzähler namens Stephan, der sich als Autor einer autobiographisch grundierten Erzählung, die eindeutig als Der Verlorene zu identifizieren ist, vorstellt. Und wer glaubte, mit diesem Buch, dessen eigentliches Thema eine typische Krise in der Mitte des Lebens ist, habe Treichel sein "Vexierspiel zwischen Autobiographie und Fiktion" (Thomas Schaefer) auf die Spitze getrieben, wird mit dem neuen Roman des Professors am Leipziger Literaturinstituts eines besseren belehrt.
In Anatolin treffen wir auf einen Ich-Erzähler, der mit dem tatsächlichen Hans-Ulrich Treichel identisch scheint. Bereits auf der zweiten Seite gibt er sich als Verfasser von zwei Büchern zu erkennen, deren Inhalt dem entspricht, was in Der Verlorene und Menschenflug erzählt wird. Der Schriftsteller sitzt im Zug von Berlin nach Warschau. Er will den Geburtsort seiner Mutter, ein kleines Dorf namens Anatolin, besuchen. Doch die Reise nach Polen bildet nur die Rahmenhandlung dieses seltsamen Romans. Zunächst einmal wird nämlich von einer anderen Expedition berichtet, die den Erzähler in die Ukraine geführt hat, wo er auf den Spuren seines Vaters wandelt, ohne dass er wirklich zu sagen wüsste, was er dort suchte. Ob er sich wirklich nur überzeugen wollte, dass Bryschtsche, der Geburtsort des Vaters, "überhaupt in der Welt war", wie er sich, am Ziel angelangt, einredet? Dem Autor gibt die Episode immerhin Gelegenheit, seinen Protagonisten als bereitwilliges Opfer geschäftstüchtiger Einheimischer zu zeigen; tragikkomische Rollen stehen Treichels Helden seit jeher am besten.
Im zweiten Teil des Buches lässt sich ein weiteres Glanzstück Treichelscher Erzählkunst bewundern. Ein Satz reicht aus, um das ganze Schreckenskabinett einer Kindheit im Dienste der Waren- und Geldzirkulation weit zu öffnen: "Ich bin zu Hause wahrscheinlich deshalb oft nervös, weil in meinem Elternhaus ständig die Ladenklingel klingelte." Man spürt förmlich die Freude des Schriftstellers an seiner Fähigkeit, die selbst diagnostizierte "biographische Verstörung" sprachlich zu bewältigen und als Quelle einer bizarren Komik zu nutzen.
Bis dahin aber ist es ein weiter Weg, an dem uns Treichel im folgenden Kapitel teilhaben lässt. Wir erleben den Erzähler als jungen Autor, erfahren von seinen Problemen mit Vorbildern und werden mit den Ambivalenzen eines literarischen Debüts vertraut gemacht. Spätestens hier gibt es auch der germanistisch sozialisierte Leser auf, weiterhin zwischen den Instanzen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Es ist Treichel, denkt man, und er erzählt uns sein Leben. Und man kann all die Menschen verstehen, die dem Autor Briefe schreiben, in denen sie ihn auf Fehler in seinen Büchern aufmerksam machen. Da geht es um die Feinheiten des Weltpostvertrages, um die Körperteile des Schweins oder um die Besoldungsgruppen im höheren Beamtendienst. Eine Dame habe sogar "alle Buch- und Filmtitel, Eigennamen sowie Fremdworte beziehungsweise fremdsprachliche Begriffe" in Treichels Roman Der irdische Amor überprüft und eine erkleckliche Menge an Fehlern gefunden.
Man sieht, dass fiktionale Literatur manchmal auf eine verquere Weise ernst genommen wird. Mag es dem Autor auch um eine tiefere Wahrheit, um das "Authentische", wie Treichel sagt, gehen - ist der Text erst einmal veröffentlicht, wird er eben auch an der "Wirklichkeit" gemessen. Wenn also während einer Lesung aus dem Verlorenen eine Frau sich meldet und dem Schriftsteller mitteilt, ihre Mutter sei bei der Flucht dabei gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, wie sein verschollen geglaubter Bruder gestorben sei, zeigt sich, wie sehr seine Familiengeschichte durch ihre Literarisierung öffentliches Eigentum geworden ist.
Man mag dieses Buch für ein Stück Meta-Literatur halten, das die Gattungsbezeichnung Roman nur aus verkaufsstrategischen Gründen trägt. Andererseits wirkt die Verwandlung des Autors in einen Romanhelden durchaus überzeugend. Selten sind die Aporien realistischen Erzählens so elegant und unterhaltsam literarisiert worden. Das soll aber nicht heißen, dass wir in Zukunft mehr Bücher dieser Art von Hans-Ulrich Treichel lesen möchten.
Hans-Ulrich Treichel Anatolin. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 189 S., 17,80 EUR
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