Die Katholiken kriegen fünf

Kein Friede in Nordbelfast Pit Wuhrers skeptische Darstellung des Nordirlandkonflikts ist von bedrückender Aktualität

Der Postangestellte Danny McColgan war 20 Jahre alt, als er umgebracht wurde. Seine Mörder nennen sich hochtrabend Red Hand Defenders. Was sie zu verteidigen meinen, ist die protestantische Identität Nordirlands. Der Katholik Danny McColgan hatte seinen Arbeitsplatz in einem überwiegend protestantischen Viertel Nordbelfasts. Darum musste er sterben. Zuvor hatten die Red Hand Defenders katholische Strafvollzugsbeamte, Lehrer und Postangestellte zu "legitimen Zielen" erklärt.

Der Mord an Danny McColgan markiert den bisher traurigen Höhepunkt der jüngsten Eskalationen in Nordirland, die mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Holy-Cross-Schule begannen. Wer zum Haupteingang dieser katholischen Grundschule will, muss durch eine von Protestanten bewohnte Straße. Und das gilt im von sektiererischem Hass zerrissenen Belfaster Norden als Provokation. Zwar gab es noch vor kurzem begründete Hoffnungen, dass wieder relative Ruhe zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen eintreten würde. Doch einige kleine Zusammenstöße reichten aus, schreibt die Tageszeitung Irish News, um Protestanten wie Katholiken zu gewalttätigen Ausschreitungen zu provozieren. Und dies ist genau die Stimmung, von der paramilitärische Gruppen wie die Red Hand Defenders profitieren.

Dabei schienen die Manager des nordirischen Friedensprozesses, vom Unionisten David Trimble bis zu den Sinn Féin-Vertretern Gerry Adams und Martin McGuinness, doch alle gefährlichen Klippen mit teilweise atemberaubenden Manövern zu umschiffen. Da wurden stillschweigend Fristen verlängert, Willensbekundungen hin und her analysiert und Vereinbarungen großzügigst interpretiert, nur um die hochfragile Mehrparteienregierung der Provinz nicht scheitern zu lassen. In diesem Fall hätten nämlich vor allem die just zu legitimer politischer Macht gelangten Republikaner viel zu verlieren. Wenn man einigen Beobachtern glaubt, ist die Chance, was durch jahrzehntelangen bewaffneten Kampf nicht gelang, auf friedlichem Wege zu erreichen, durchaus real. In der Januarausgabe der englischen Intellektuellenzeitschrift Prospect spekuliert Kevin Toolis, Autor eines Standardwerkes über die IRA (Rebel Hearts), gar darüber, ob Sinn Féin-Kopf Adams, immerhin Anfang der siebziger Jahre Chef der Belfast-Brigade der IRA, nicht in einigen Jahren als Taoiseach, also als Premierminister eines vereinigten Irlands, in Frage komme.

Doch was dem republikanischen Establishment wie die Erfüllung einer politischen Vision erscheinen dürfte, ist für die sozial depravierten Protestanten in Nordbelfast der Albtraum schlechthin. Schließlich fühlen sie sich seit jeher von den Katholiken bedroht. Selbst jemand wie Michael Atcheson, der als Mitglied der protestantischen Terrorgruppe Ulster Volunteer Force lange Jahre im Gefängnis saß und sich heute um die Verständigung zwischen den beiden Gruppen bemüht, ist fest in seinem Vorurteil. "Während wir zwei Kinder auf die Welt bringen, kriegen die Katholiken fünf", erzählt er dem Schweizer Journalisten Pit Wuhrer. Und irgendwann, das ist die Botschaft, haben sie die Mehrheit in der Provinz, während die, die loyal zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland stehen, ihrer endgültigen Marginalisierung entgegensehen können.

Michael Atcheson ist nur einer der vielen Gewährsleute von beiden Seiten des konfessionellen Grabens, die Wuhrer in seinem bemerkenswerten Nordirlandbuch Die Trommeln von Drumcree auftreten lässt. Der Titel deutet schon an, dass wir es nicht mit einer Neuerscheinung zu tun haben. Drumcree, das ist jene kleine Kirche nahe der Stadt Portadown, die jedes Jahr, wenn die Protestanten mit lauten Märschen ihre vor mehreren hundert Jahren in der Schlacht am Boyne errungene Vorherrschaft über Nordirland feiern, zum Schauplatz wütender Auseinandersetzungen wird. Dabei geht es um nichts weniger als das Recht, eine von Katholiken bewohnte Straße auch gegen deren Willen herunterzumarschieren. (Zyniker dürfen jetzt eine Parallele zum oben beschriebenen Schulwegkonflikt erkennen.) Gerade weil sie so fremdartig wirken, machen die Auseinandersetzungen in Portadown auch hierzulande regelmäßig im Sommer Schlagzeilen. Da lag es wohl nahe, einen entsprechenden Titel zu wählen, auch wenn nur ein Kapitel tatsächlich von Drumcree handelt. Andererseits sind die sommerlichen Belagerungsrituale in vielerlei Hinsicht symptomatisch für Nordirland am Rande des Friedens, wie der sinnreiche Untertitel dieses Buches, das viel mehr ist als ein journalistischer Schnellschuss, lautet.

Pit Wuhrer liefert nämlich nicht weniger als die zur Zeit differenzierteste Darstellung der politischen, ökonomischen und nicht zuletzt kulturellen Gemengelage in Nordirland, und dies macht sein Buch gerade angesichts der momentanen Entwicklung so lesenswert.

Notwendigerweise muss er dabei historisch so weit zurückgehen wie viele Nordiren es selbst gerne tun, nämlich ins 17. Jahrhundert, als sich die ersten protestantischen Bauern aus Schottland in Ulster ansiedelten und Oliver Cromwell unter der katholischen Urbevölkerung wütete. Doch ziemlich rasch gelangt er über die markanten Punkte der irischen Geschichte (Battle of the Boyne 1690, Aufstand der United Irishmen 1789, Osteraufstand 1916) zur nordirischen Bürgerrechtsbewegung der späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Als nämlich die herrschenden Protestanten und ihre Ordnungsmächte mit äußerster Brutalität auf die zunächst zaghaften Proteste der diskriminierten katholischen Minderheit reagierten, zündete der Funke für einen 30 Jahre dauernden Bürgerkrieg, der mehr als 3.600 Menschenleben kostete und Nordirland den Beinamen "Unruheprovinz" eintrug.

Die Sympathien des Autors liegen deutlich auf der Seite der Bürgerrechtler. Zu Recht. Doch wenn Wuhrer die IRA mit Sätzen wie: "Ein Vierteljahrhundert lang hat die kleine Guerillatruppe Krieg gegen eine der mächtigsten Armeen der Welt geführt" beschreibt, befürchtet der Leser, dass er es mit einer jener Apologien des "bewaffneten Kampfes" zu tun bekommt, wie sie in den siebziger und achtziger Jahren zum Standardrepertoire linker Irlandromantiker gehörten. Glücklicherweise wird diese Erwartung aufs angenehmste enttäuscht. Wuhrer hat sich nämlich, ungeachtet aller Parteilichkeit, den Blick für die komplexe Realität des Konfliktes bewahrt. Seine Interviews mit Zeitzeugen aus beiden Lagern ermöglichen einen Einblick in jene Strukturen, an denen bis zum jetzigen Friedensprozess alle Versuche, einen Ausgleich zwischen Protestanten und Katholiken herbeizuführen, gescheitert sind. Außerdem versteht er es, so anschaulich und packend zu erzählen, dass man das Buch wie eine gute lange Reportage liest.

Leider hat die Lektüre den schizophrenen Effekt, dass sich zum Lesevergnügen der Pessimismus gesellt. Denn vor allem die abschließenden Kapitel des Buches geben wenig Anlass, frohen Mutes in Nordirlands Zukunft zu schauen. Da ist einmal der Blick in die konfessionellen Ghettos im Norden Belfasts. Wuhrer schildert bedrückende Lebensumstände, die dem Leser jede Verwunderung über die Gewalteskalation der vergangenen Wochen austreiben. Und von den vier Szenarien, in denen der Autor eine mögliche Zukunft für Nordirland skizziert, wirken tragischerweise jene am wahrscheinlichsten, die von einer Rückkehr zur Gewalt ausgehen, auch wenn man es nicht hoffen möchte. Vielleicht ist der leicht zynische Vorschlag, den der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in seinem amüsanten Aufklärungsbüchlein Die Wahrheit über die Iren gibt, gar nicht so wirklichkeitsfern. Zumindest entspricht er dem sarkastischen Humor, den die Nordiren seit langem kultiviert haben. Praktikabler als die bisherigen politischen Abkommen wäre es, schreibt Eagleton, "wenn man dort, wo heute die Grenze verläuft, eine Linie ausstanzte, deren obere Hälfte wegrisse und sie aufs Meer hinaustreiben ließe".

Pit Wuhrer: Die Trommeln von Drumcree. Nordirland am Rande des Friedens. Rotpunktverlag, Zürich 2000, 293 S., 17,00 EUR
Terry Eagleton: Die Wahrheit über die Iren. Aus dem Englischen von Silke Morawetz.. Verlag C. H.Beck, München 2000, 172 S.,14,90 EUR

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