Ideologische Himmelsrichtungen

Barbaren In seiner Studie "Die Deutschen und der Osten" untersucht Wolfgang Wippermann Geostereotype

Ostblock": Welch harten Klang hat dieses noch vor wenigen Jahren gern gebrauchte, mittlerweile in Vergessenheit geratene Wort. Wer in der alten Bundesrepublik "Ostblock" sagte, der meinte Arbeitslager, Polizeistaat, Sibirien. Deshalb war der Begriff in linken Kreisen verpönt, lieber sprach man von den Staaten des "real existierenden Sozialismus". Der war zwar nicht unbedingt vorbildlich, hatte aber eine bessere Zukunft vor sich als die kapitalistische Wirtschaftsordnung, an deren verdientem Untergang wir mitzuwirken hofften. Den Wohnsitz "nach drüben" zu verlegen, wie es studierenden Gesellschaftskritikern in jenen Jahren gerne nahegelegt wurde, wäre allerdings den wenigsten von uns eingefallen. Vielleicht war der "Ostblock" in unseren Köpfen doch stärker als der Glaube an die Vorzüge eines "realen Sozialismus".

Dies kleine Beispiel illustriert die banale Tatsache, dass Himmelsrichtungen nicht nur geographische Angaben sind, sondern immer auch ideologische Dimensionen haben. Und gerade der Osten ist in dieser Hinsicht überdeterminiert, wie der Historiker Wolfgang Wippermann in seiner kleinen Studie Die Deutschen und der Osten zu zeigen versucht. Neben einem "europäischen" und einem "orientalischen" gebe es noch einen "politischen" und einen "religiösen" Osten, die "in einem langen und tief in die Geschichte zurückgreifenden Prozess erfunden, stereotypisiert und zu dem gemacht" wurden, was Wippermann als "Geostereotype" bezeichnet. Diesen Prozess darzustellen und einer ideologiekritischen Analyse zu unterziehen, ist die Intention seines Buches.

Am Anfang steht die Religion. Vom Osten des Römischen Reiches aus verbreitet sich das Christentum, dessen heilige Stätten im Orient liegen. Im Jahre 1054 spaltet sich die Kirche endgültig in einen östlichen, orthodoxen und einen westlichen, römisch-katholischen Teil. Für "die Deutschen" spielt das Schisma, wie Wippermann feststellt, keine besondere Rolle. Warum er dennoch darauf eingeht, mag darin begründet sein, dass sich hier die Gelegenheit bietet, den für die Vormachtstellung Roms gegenüber Byzanz streitenden Päpsten "moralisch anrüchige und rechtlich verwerfliche Methoden" zu bescheinigen.

Ausgiebig beschäftigt sich der Autor mit dem historisch bedeutsameren Verhältnis von abendländischem Christentum und morgenländischem Islam. Beispiele vom Stauferkaiser Friedrich II. über Wolfram von Eschenbachs Parzival bis hin zu Goethes West-östlichem Diwan sollen belegen, dass sich die beiden Kulturkreise nicht nur feindselig gegenüberstanden, während die anti-türkische Propaganda der frühen Neuzeit und das von ethnischen Stereotypen geprägte Orientbild in den Romanen Karl Mays für die herrschenden Vorurteile gegenüber dem Islam stehen. Allerdings konzediert Wippermann hier, dass das in Frankreich und England dominierende Bild des Morgenlandes "weitaus schlechter war als das deutsche".

Hierzulande konzentrierten sich die negativen Vorurteile auf Russland. Bereits im 16. Jahrhundert sei es zu einer Übertragung "des türkischen auf das russische Feindbild" gekommen: "Die bisher den Türken nachgesagten Grausamkeiten wurden jetzt auch den Russen oder ›neuen Türken‹ vorgeworfen." Recht überraschend fragt Wippermann an dieser Stelle erstmals, ob es sich dabei mehr um Phantasieprodukte oder um zumindest an Tatsachen orientierte Berichte handle, um mit der Feststellung, die Kriege im Osten seien generell mit besonderer Grausamkeit geführt worden, zur Ideologiekritik zurückzukehren. Schließlich sei der wirkungsmächtige Topos vom "barbarischen Russland" schon im frühen 16. Jahrhundert von dem österreichischen Diplomaten Sigismund Freiherr von Herberstein und dem deutschen Naturwissenschaftler Adam Olearius in die Welt gesetzt worden.

Diese wiederum hätten ein Russlandbild kolportiert, das offensichtlich auf ein schon vor ihrer Reise ins Zarenreich "gefasstes und geprägtes Vorurteil" zurückgehe. Auch die deutsche Linke des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Herren Marx und Engels, habe das Feindbild Russland geradezu liebevoll gepflegt. Doch die Frage, inwieweit die Rede von der russischen Rückständigkeit zumindest reale gesellschaftliche Verhältnisse reflektierte, bleibt ungestellt. Zeitgenössische Berichte, wie sie beispielsweise der englische Historiker Orlando Figes in Die Tragödie eines Volkes (Berlin 1998) zitiert, lassen vermuten, dass es sich eben nicht um ein unbegründetes Vorurteil handelte.

Aber wie der Orient hatte auch Russland nicht nur Feinde. In der Folge des Ersten Weltkriegs blickten gerade die Gegner der jungen Weimarer Republik hoffnungsvoll nach Osten. Ein Nationalbolschewist wie Ernst Niekisch sah in der Sowjetunion einen Bündnispartner gegen den "Geist des Demokratismus". Kein Wunder, dass solche falschen Freunde Wippermanns Verdikt ereilt: "Vor derart antiwestlichen und zugleich ostimperialistischen Gedanken ist zu warnen." Und der Leser ist dankbar, dass man ihn an die Hand genommen hat.

Um den "Ostimperialismus" geht es auch in den nächsten Kapiteln. Seit dem späten 18. Jahrhundert hatten Historiker versucht, eine Traditionslinie deutscher Siedlungen im Osten vom Mittelalter an zu konstruieren, um entsprechende koloniale Ansprüche zu rechtfertigen. Im "Generalplan Ost", mit dem die "wissenschaftliche" Grundlage für den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen Polen und die Sowjetunion gelegt wurde, kulminierte diese Form der "Geschichtsschreibung".

Wippermann bezieht zu Recht Stellung gegen die ideologisch motivierte Deutung historischer Prozesse im Mittelalter und der frühen Neuzeit in den nationalstaatlichen Kategorien des 19. und 20. Jahrhunderts. Andererseits benutzt er selbst relativ unreflektiert einen Begriff wie "die Deutschen", wenn es darum geht, deren kollektive Defekte aufzuspüren. So konstatiert er eine "um sich greifende neue Türkenangst", die sich "fast wie die alte an der Religiösität (sic!) und nicht so sehr an der Nationalität der deutschen Türken und der Türken in Deutschland" entzünde. Dabei säßen die von Turkophobie erfassten "Teile der deutschen Mehrheitsgesellschaft" jedoch einem Irrtum auf, denn der extreme Islamismus, den man durchaus fürchten müsse, sei dem wahren Islam fremd. Dies zu hören ist sicherlich tröstlich für die Bewohner jener Stadtviertel, in denen die Folgen einer verfehlten, weil fehlenden, Einwanderungspolitik auch für einen in Dahlem lehrenden Zeithistoriker nicht zu übersehen sein dürften.

In seiner Einleitung verspricht Wippermann "eine Darstellung der Entstehung, Genese und Funktion des bzw. der deutschen Geostereotype über den bzw. die Osten". Um dies zu leisten, muss er mehrere disparate Phänomene unter einen Hut bringen. Denn es besteht, zumindest aus deutscher Sicht, kaum ein Zusammenhang zwischen den Eroberungsgelüsten des Osmanischen Reiches und der erst in den letzten Jahren als solche erkannten Einwanderungsproblematik. Auch ist es gar nicht so einfach, den Bogen vom "orientalischen" zum "europäischen" Osten zu spannen. So bleiben am Ende "die Deutschen" und ihre Angst die einzigen wirklichen Konstanten seiner Argumentation.

Insgesamt handle es sich bei seinem Thema um ein "nicht nur weites, sondern auch schwieriges Feld". Den Nachweis, dass sich dessen Bearbeitung lohnt, kann Wippermann leider nicht vollständig erbringen.

Wolfgang Wippermann: Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland. 159 S., Primus Verlag, Darmstadt 2007, 180 S., 19,90 EUR


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