Geschlagene viereinhalb Stunden muss Sifat Farooq warten, bis er endlich in Doktor Mukherjees Behandlungsraum gebeten wird. Wäre er gegangen, statt im Wartezimmer auszuharren, hätte er sich eine erniedrigende Begegnung erspart. Doktor Mukherjee, ein gebürtiger Inder, der seit 30 Jahren in England lebt, zögert nämlich nicht lange mit der entscheidenden Diagnose: "Sie sind Pakistani?!" Da kann Farooq noch so sehr darauf insistieren, dass er wie Mukherjee einen britischen Pass besitze; der seit langem schwelende Konflikt auf dem indischen Subkontinent kommt in der Arztpraxis im Londoner Stadtteil Hounslow zum Ausbruch und der Hilfe suchende Pakistani muss unbehandelt wieder abziehen.
Zeuge des Wortscharmützels zwischen den beiden eingebürgerten Immigranten wird ein Neuankömmling: Zoltán Rózsa, von seinen Freunden Zoli genannt, stammt aus Budapest und arbeitet als Au-pair bei den Mukherjees, die natürlich eine weibliche Familienhilfe erwartet hatten. Bald kommt es zu den ersten Konflikten mit den beiden Töchtern der Familie, so dass Zoli kurzerhand zum Praxishelfer avanciert. Mit Doktor Mukherjee verbindet ihn nämlich eine unerwiderte Liebe zu England.
Zoltán Rózsa ist Hauptfigur und Ich-Erzähler eines der klügsten und komischsten Romane, die in den vergangenen Jahren über das multikulturelle Europa geschrieben worden sind. Mein Leben als Engländer entführt den Leser in die Welt der "Expatriierten", wie es sie in vielen europäischen Großstädten gibt. Für den Neu-Londoner Zoli ist dies die Kneipe Southern Star, in der an jedem Wochenende junge Menschen aus aller Herren Länder erhebliche Mengen Alkohol in sich hineinschütten, um anschließend erotische Kontakte zu knüpfen. Engländer verirren sich nicht hierher, und so bleibt Zolis einziger Kontakt zur einheimischen Kultur der angophile Doktor Mukherjee. Doch auch diesem hat es bisher wenig geholfen, dass er regelmäßig das Leib- und Magenblatt konservativer Briten, den Daily Telegraph, liest und Margret Thatcher verehrt. Seine Patienten sind fast ausschließlich "Landsleute", und unter diesen gibt es noch die besondere Gruppe der einst von Idi Amin vertriebenen Uganda-Inder, die sich aufgrund ihrer privilegierten Rolle in dem afrikanischen Staat immer noch für etwas Besseres halten. So demontiert dieser Roman auf ebenso subtile wie komische Weise lieb gewonnene Vorstellungen über die multikulturelle Idylle der Weltstadt London, ohne dabei seine Protagonisten zu denunzieren.
Mein Leben als Engländer ist der erste Roman des 1970 geborenen Ronald Reng, der selbst fünf Jahre lang als Journalist in der englischen Hauptstadt gearbeitet hat. Dieser Zeit verdankt sich wohl auch die intimen Kenntnis des Medien- und Kulturszene der Insel, die das Buch bei aller satirischen Übertreibung durchaus authentisch wirken lässt. Ein besonderer Kunstgriff ist natürlich, einen jungen Ungarn zur Hauptfigur zu machen. Das zeigt sich spätestens dann, wenn die Handlung von London nach München wechselt. Zoli freundet sich nämlich mit der deutschen Textileinkäuferin Tina an, die in ihrer Heimatstadt eine neue Stelle antritt. Er begleitet sie und beginnt, als Kellner im Biergarten zu arbeiten. Und wie könnte es anders sein, lernt er hier nicht nur seine ersten richtigen Engländer kennen, sondern wird auch fast selbst einer. Um den Job zu bekommen, gibt er sich als Schotte aus.
Dass man in München leichter Engländer kennen lernt als in London, bekommt Zoli rasch heraus. Andere Unterschiede fallen ebenso ins Auge. Den berühmten Gleichmut, mit dem zum Beispiel die Londoner U-Bahnverspätungen und andere Missstände ertragen, sucht man in Deutschland vergebens. Hier regen sich die Leute auf, meckern, protestieren. Der Deutschen Tina gefällt das gar nicht, aber Zoli kann solches Verhalten nicht schlimm finden. Für ihn ist die teutonische Beschwerdementalität das "Geheimnis des legendären deutschen Wohlstands". So hilft der fremde Blick, ganz abgesehen von seinem komischen Potenzial, immer wieder, vertraute Sichtweisen zu unterlaufen.
Später verschlägt es Zoli zurück nach London, wo er in einer überfüllten Australier-WG unterkommt und als Pizzabote arbeitet. Irgendwie ist die Metropole sein Zuhause geworden, auch wenn er befürchtet, dass sie ihn unglücklich machen wird "wie all die anderen Ausländer". So endet Mein Leben als Engländer auf einer melancholischen Note, denn seinen Plan, nach Ungarn zurückzugehen, nimmt man dem Erzähler nicht ab. Dafür hat man ihn zu gut kennen gelernt.
Ronald Reng: Mein Leben als Engländer. Roman. Kiepenheuer Witsch, Köln 2003, 300 S., 8,90 EUR
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