Einmal, erinnert sich der amerikanische Autor Said Sairafiezadeh, habe er den Mut aufgebracht, seine Mutter zu bitten, ihm ein Skateboard zu kaufen. Im Kaufhaus angelangt, hatte sie es sich offenbar anders überlegt. "Wenn die Revolution kommt", erklärte sie ihrem verblüfften Sohn, "wird jeder ein Skateboard haben, denn dann sind alle Skateboards umsonst." Und der kleine Said stellte sich eine Welt vor, in der es immer Sommer war und wo Jungen auf ihren Skateboards die grünen Hügel hinunter- und wieder hinauf sausten.
Saids Mutter war wie sein Vater Mitglied der trotzkistischen Socialist Workers Party. Und nicht alle seine Kindheitserinnerungen haben den bizarren Charme der Skateboard-Episode. Stundenlang stand der Kleine mit seiner Mutter vor dem einzigen Supermarkt eines vor allem von Afro-Amerikanern bewohnten Viertels, um die Parteizeitung Militant feilzubieten, für die die Unterprivilegierten allerdings nur wenig Interesse aufbrachten. "Aber das machte nichts, denn wir waren wir. ... Zwar hatten wir momentan nicht unbedingt Millionen hinter uns, aber wir hatten einander und wir hatten andere Genossen und wir hatten Trotzki und Lenin und Marx und die Russische Revolution, und wir hatten die richtigen Ideen, und wir wussten, dass wir eines Tages triumphieren würden." Einstweilen allerdings beschränkte sich das Ziel darauf, USA-weit 1.000 Abonnenten für den Militant zu gewinnen.
Richard David Precht musste nie in Solingens Arbeitervierteln die UZ verkaufen. Seine Eltern, die beide der DKP angehören, haben die parteieigene Tageszeitung nicht einmal selbst abonniert. Überhaupt scheint es sich bei den Prechts nicht um große Aktivisten der kommunistischen Sache zu handeln. Die Mutter ist engagiert bei terre des hommes, wo sie sich um die Adoption von Waisen aus Vietnam und anderen Kriegsgebieten kümmert, während der Vater, von Beruf Industriedesigner, vor allem liest. Die Lektüre ist es auch, die ihn gegen Ende der sechziger Jahre zum Marxisten werden lässt. "Hier fand er das gedankliche Fundament für das Lebensgefühl, das ihn, seit er denken konnte, bestimmt hatte." Dieses Lebensgefühl bedeutet vor allem, dass er die Konsumgesellschaft und ihre Angebote ablehnt. "Er würde in seinem Beruf Gegenstände gestalten, an denen nur das Wichtigste dran war, und er würde sich auch sonst nicht mit überflüssigen toten Gegenständen umgeben." Mit Ausnahme der Bücher natürlich. Dass ihn bei einer solchen Einstellung das in der Bundesrepublik übliche Klischeebild der "grauen" Konsumwüste DDR nicht schrecken kann, ja sogar eine gewisse Attraktivität hat, versteht sich.
Seine Frau hingegen wird Kommunistin aus dem Gefühl heraus, gegen gesellschaftliches Unrecht eintreten zu müssen. Entscheidend für ihre Politisierung ist der Vietnam-Krieg, dessen Geschichte Richard David Precht in seinen Kindheitserinnerungen Lenin kam nur bis Lüdenscheid noch einmal in all ihrer Grausamkeit zusammenfasst. Nicht ohne zu erwähnen, welche Rolle ein deutsches Chemieunternehmen wie Boehringer bei der Herstellung des verheerenden Entlaubungsmittels Agent Orange spielte. Es ist ein erfreulicher Zug dieses Buchs, einmal wieder daran zu erinnern, dass die Protestbewegung der später sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eben nicht nur die spätpubertäre Auflehnung gegen die Elterngeneration war, als die sie manchmal dargestellt wird. Zudem sind die Prechts, 1933 beziehungsweise 1938 geboren, ein bisschen zu alt, um noch als typische 68er durchzugehen.
Der linke Zeitgeist allerdings, von dem in Solingen sonst nicht sehr viel zu spüren ist, macht sich in der Erziehung des kleinen Richard Davids und seiner Geschwister schon bemerkbar. Da werden, nach der Lektüre von A. S. Neills Summerhill-Buch, Versuche in Richtung der anti-autoritären Erziehung gemacht, allerdings nur, wie die Mutter zugibt, "so weit, wie es meine Nerven ertragen". Da gibt es also durchaus "Schreie, Drohungen und Schläge". Wenn es aber darum geht, dem grassierenden Konsumwahn zu trotzen, sind die Prechts an erster Stelle. Geld für Süßigkeiten oder Ausflüge ins "Phantasialand" gibt es nicht. Amerikanische Kinderserien sind ebenso verboten wie Fernsehwerbung. Stattdessen hören die Kinder die berühmt-berüchtigte Wagenbach-Schallplatte Warum ist die Banane krumm? oder singen, allerdings in einer ganz eigenen Textfassung, mit, wenn Franz-Josef Degenhardts Lied über Sacco und Vanzetti aus den Boxen tönt: "Euer Kampf, nie Cola und Bart ..." Und sie dürfen Wände bekritzeln, Haustiere halten und sich dreckig machen. Dass dies im Widerspruch zu dem im realen Sozialismus praktizierten Erziehungsstil steht, ist den Eltern durchaus bewusst, hat aber, wie bei den meisten westdeutschen Linken, keine Konsequenzen.
Richard David Prechts Buch ist ein differenzierter Versuch, die seit einiger Zeit viel diskutierten siebziger Jahre aus einer ungewohnten Perspektive zu schildern. Dass er dabei nicht wie andere zur Generalabrechnung mit den Irrtümern einer ganzen Generation schreitet, macht sein Unternehmen sympathisch. So verzeiht man ihm auch gern die Neigung, vielfach geschilderte Schlüsselereignisse des Jahrzehnts noch einmal ausgiebig Revue passieren zu lassen. Problematischer scheint allemal der erzähltechnische Spagat zwischen dem erwachsenen Autor und seinem Kindheits-Ich. Vielleicht hätte Precht die manchmal etwas willkürlich erscheinenden Tempuswechsel hier zur besseren Differenzierung nutzbar machen sollen.
Bislang kam die Erinnerungsprosa relativ junger Autoren beinahe immer als Generationenporträt daher, so programmatisch in Florian Illies´ Generation Golf, aber auch in Heinzen/Kochs frühem Versuch über die so genannten 78er Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden (1985). Richard David Precht dagegen scheint es nicht um Gemeinsamkeiten, sondern um Differenz zu gehen. Weder sind seine Eltern typisch für die Protestgeneration, noch hat er selbst viel mit seinen Altersgenossen gemeinsam. Die Popkultur der siebziger Jahre bleibt ihm fremd. Wenn andere von den Bay City Rollers oder Kiss schwärmen, denkt er an Degenhardt, Wader und Süverkrüpp. Nicht zuletzt aus diesem Distinktionsgewinn speist sich der exotische Reiz seines Buches.
Einer, der ebenfalls mit Nachdruck "ich" sagen kann, ist der Romancier und Essayist Stephan Wackwitz, der nach Ein unbekanntes Land (2003) nun den zweiten Teil seines autobiographischen Projektes vorgelegt hat. In seinem halb ironisch, halb ernsthaft Bildungsroman genannten Buch Neue Menschen führt Wackwitz seine Leser ebenfalls zurück in die siebziger Jahre. Der Autor begegnet uns als junger, hoch motivierter Student der Germanistik und Geschichte, dem die identifikatorische Hölderlin- und Peter Weiss-Lektüre irgendwann nicht mehr genug ist. "Ein Hunger nach theoretisch begründeter Praxis", bemächtigt sich seiner, und die Konsequenz ist ausgerechnet der Eintritt in den Marxistischen Studentenbund Spartakus. Im Nachhinein scheint Wackwitz dieser Schritt in die organisierte Studentenpolitik wie ein "über mich verhängter Zauberspruch", denn nachvollziehen, was ihn dazu trieb, seine Zeit mit Sektionssitzungen, Bildungssitzungen und Leitungssitzungen zu füllen, kann er nicht mehr richtig. Aber so ganz mächtig scheint der Zauber nicht gewesen zu sein, denn die in den Text eingestreuten Tagebuchschnipsel aus jenen Jahren zeigen einen jungen Mann, der durchaus bei Kopfe ist.
Aber es sind wohl gerade die hier artikulierten Zweifel, die ihn Jahrzehnte später noch immer antreiben, seinen Jugendtorheiten auf den Grund gehen zu wollen. Was treibt einen klugen jungen Menschen dazu, sich den in der Rückschau nicht selten lächerlich wirkenden Zwängen einer politischen Organisation zu unterwerfen? Und welchen Umständen ist es zu verdanken, dass er diesem Apparat nicht allzu beschädigt wieder entkommt?
Wackwitz sucht die Antworten auf diese Fragen in seiner Familiengeschichte. Anhand von Dokumenten rekonstruiert er beispielsweise die Begegnung seines Vaters mit dem schwulen Kunsthistoriker Christian Adolf Isermeyer in einem kanadischen Kriegsgefangenenlager, die für den 21-Jährigen von entscheidender Bedeutung ist. Isermeyer hilft ihm, sich endgültig von der Nazi-Ideologie seiner Jugend zu lösen. Dass ihn gerade seine Homosexualität dazu prädestinierte, ist eine zentrale These in Wackwitz´ Argumentation. "Schwule Lebenskunst ist immer davon ausgegangen, dass es keine reinen Ursprünge gibt. Stattdessen versucht diese Kunst (diese Weisheit) Probleme und Identitäten so zu formulieren und zu formatieren, dass man heil durchkommt und glücklich wird dabei." Dieser Pragmatismus ist für den Autor das genaue Gegenteil jener Ideologien mit Absolutheitsanspruch, "die meinem Vater und mir die frühen Mannesjahre versauten ..." Denn daran lässt er keinen Zweifel: Zwischen dem jungen Nazi Gustav Wackwitz und dem MSB-Mitglied Stephan Wackwitz gibt es keinen qualitativen Unterschied. Nicht umsonst firmieren die vielen kommunistischen Gruppen und Grüppchen der siebziger Jahre hier als "zweite totalitäre Massenbewegung des letzten Jahrhunderts in Deutschland".
Das ist, wenn man die in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen Auswirkungen dieser Bewegungen vernachlässigt, eine durchaus bedenkenswerte Theorie. Die Anfälligkeit junger Menschen für "Erlösungswerke und Weltumgestaltungspläne" sind in letzter Zeit häufiger thematisiert worden. Was gerade dieses Buch manchmal so schwer erträglich macht, ist die Pose, mit der Wackwitz seine individuelle Biographie zum klassischen Lehrstück stilisiert. Seht, ruft es aus diesen Seiten, meine Dummheit ist nicht nur typisch für die Dummheit meiner Generation, sie ist die Dummheit aller Generationen. Andererseits: Während der Vater noch von einem Kunstgeschichtler mit Stil von seinem jugendlichen Irresein befreit werden muss, könnte es beim Sohn schon die Tochter eines Eisdielenbesitzers tun, die "weder Hegel noch Hölderlin oder Lenin gelesen" hat und der der Sinn nach einem "netten gut verdienenden jungen Mann" steht. Warum der Autor "diese Chance" nicht ergreift, verschweigt er uns. "Eine andere Geschichte" heißt es vieldeutig in Parenthese. Da kann man ja auf das nächste Buch gespannt sein.
Said Sairafiezadeh: When Skateboards Will Be Free. In: Granta 91/2005.
9,99 britische Pfund.
Richard David Precht: Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution. Claasen, Berlin 2005. 352 S., 18 EUR
Stephan Wackwitz: Neue Menschen. Bildungsroman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005, 272 S., 19,90 EUR
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