Sind so kleine Hände

JUGENDLICHE GEWALT Eine hilflose Gesellschaft sucht nach Erklärungen

Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen; als sie nun nachmittags miteinander spielen wollten, hat das eine Kind zum andern gesagt: ›Du sollst das Schweinchen und ich der Metzger sein‹; hat darauf ein bloß Messer genommen und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen."

So beginnt eine der beiden Geschichten, die die Brüder Grimm 1812 unter dem Titel Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben in ihre erste Sammlung der Kinder- und Hausmärchen aufnahmen. Schon bald nach der Veröffentlichung wurden kritische Stimmen laut. Achim von Arnim berichtete von einer Mutter, die ihren Kinder das Märchenbuch aufgrund eben dieser Texte nicht in die Hand geben mochte. Zunächst verteidigten sich die Grimms noch und beriefen sich auf die pädagogisch wertvolle Abschreckungswirkung der grausamen Geschichte: "Das Märchen von dem Schlachten habe ich in der Jugend von der Mutter erzählen hören, es hat mich gerade vorsichtig und ängstlich beim Spielen gemacht." Doch in der zweiten Ausgabe entfernten sie den umstrittenen Text aus der Sammlung. War er ihnen vielleicht zu nah an der Realität?

Kinder und Jugendliche zeigen sich immer wieder fähig zu unbegreiflichen Gewalttaten. Eine hilflose Gesellschaft sucht nach Erklärungen und findet sie auch: Die Medien sind schuld. Gewaltverherrlichende Computerspiele, Horrorvideos, die vielen Leichen im Fernsehen, wer würde da nicht einen Zusammenhang erkennen. Kinder und Jugendliche als Gewaltäter - das schockiert uns noch mehr, als wenn sie, was häufiger vorkommt, zu Opfern von Gewalt werden. Gerne würden wir uns das Bild vom unschuldigen Kind bewahren, schließlich kommt es uns allen zugute. Schließlich liefert "in einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft wie der unserigen", wie Katharina Rutschky kürzlich zu Recht bemerkte, "der Kinderkult den moralischen Kitt, zu dem alle Fraktionen und Denominationen einen Beitrag leisten können". Aber wehe, wenn sie aus der Rolle fallen, wenn die "kleinen Hände" (Bettina Wegener) selbst zuschlagen oder zur Waffe greifen. Dann suchen wir verzweifelt den Verführer. Wie gut, dass gerade zu dem Zeitpunkt, als in Meißen eine Lehrerin erstochen wird, ein Hollywoodfilm anläuft, in dem Schüler Mordgelüste gegenüber ihrer Lehrerin hegen. Den kann man dann nämlich aus dem Verkehr ziehen und hat sogar noch ein Diskussionsthema, das von dem eigentlichen Skandalon ablenkt: dass nämlich Kinder und Jugendliche brutal und grausam sein können.

Unsere Vorstellung von Kindheit und Jugend ist noch relativ jung und in nur wenigen Ländern der Welt verbreitet. Dass man in den USA den kleinen Schweizer wegen vermeintlicher sexueller Belästigung seiner Halbschwester nachts verhaftet und in Handschellen und Fußketten abgeführt hat, ist für unser Empfinden eine Ungeheuerlichkeit, für Amerikaner jedoch nichts, worüber man sich besonders aufregen müßte. Aber auch hierzulande beginnt sich das Klima zu ändern, wie man an der Forderung nach Senkung des Strafmündigkeitsalters und nach härteren Strafen für jugendliche Kriminelle sehen kann. Selbst die Grünen fordern die Einrichtung geschlossener Heime, deren Abschaffung vor fünfundzwanzig Jahren zu den Standardforderungen der Linken gehörte.

Doch statt law and order zu rufen, sollte man die Veränderungen, denen Kindheit und Jugend in den letzten drei Jahrzehnten unterworfen waren, kritisch reflektieren. Noch in den sechziger Jahren hatten Vierzehnjährige mit Beginn ihrer Berufsausbildung einerseits fast schon den Schritt ins Erwachsenendasein gemacht, waren aber andererseits strikten Zwängen unterworfen, während heute manch zwanzigjähriger Hedonist vormittags die Schule besucht, nachmittags seinem Job nachgeht und abends die Freundin ins Nobellokal ausführt, derweil aber noch immer bei den Eltern wohnt. Der Infantilisierung unserer Gesellschaft auf der einen entspricht das Verschwinden der Kindheit auf der anderen Seite. Inzwischen werden die regelmäßigen Nebenjobs von Oberstufenschülern zum dicken Problem für Lehrer. Allein in Bayern geht mehr als die Hälfte aller Abiturienten regelmäßig bezahlten Tätigkeiten nach, so dass ein Vertreter des Philologenverbands nur resigniert feststellen kann: "Die führen ein kleines Erwachsenenleben." Den Eltern, andererseits ängstlich darauf bedacht, dass die Sprößlinge in der Schule nicht überfordert werden, sei dies durchaus recht. "Die sind stolz darauf, wie viel Geld ihr Sohn oder ihre Tochter da 'ranschleppen." Schließlich hat sich auch die Werbewirtschaft längst darauf eingestellt, dass familiäre Konsumentscheidungen in erheblichem Maße von den Kindern getroffen werden. Wer hätte während der Jugendrevolte der sechziger Jahre gedacht, dass die Parole "Wir wollen alles, und das sofort!" auf solche Weise Wirklichkeit werden würde. Aber wer könnte es Kindern und Jugendlichen verdenken, dass sie die Möglichkeiten wahrnehmen, die ihnen unsere Gesellschaft jetzt bereitstellt, hören sie doch oft genug, dass von der Zukunft nicht viel zu erwarten sei. Ihr Anteil unter den Sozialhilfeempfängern liegt weit über dem Durchschnitt. Auch hier liegt die Kehrseite des von Katharina Rutschky kritisierten "Kinderkults", der eben, wie die Reaktionen auf kindliche und jugendliche Gewaltkriminalität zeigen, blitzschnell in Dämonisierung und Hysterie umschlagen kann, aller Aufklärung zum Trotz. An dieser Stelle müßte die Medienkritik einsetzen.

Denn leider können wir uns nicht mehr auf die Aussagekraft des einfachen Experiments verlassen, mit dem im Märchen der Brüder Grimm das Problem der Schuldfähigkeit des kindlichen Täters gelöst wird: "... der oberste Richter solle einen schönen roten Apfel in eine Hand nehmen, in die andere einen rheinischen Gulden, solle das Kind zu sich rufen und beide Hände gleich gegen dasselbe ausstrecken: nehme es den Apfel, so soll' es ledig erkannt werden, nehme es aber den Gulden, so solle man es töten. Dem wird gefolgt, das Kind erkennt den Apfel lachend, wird also aller Strafe ledig."

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