Es gibt wohl kaum Zeiten im Leben, in denen das Gespür für Peinlichkeiten so ausgeprägt ist wie in Kindheit und Jugend. Erwachsene sind gewöhnlich erheblich toleranter (oder auch abgestumpfter) als junge Menschen und erinnern sich oft mit Grauen an jene Jahre, als sie Klassenkameraden ihrer Kleidung oder ihres Verhaltens wegen aufs Übelste diskriminierten oder, schlimmer noch, selbst zum Opfer wurden. Man kann ja so viel falsch machen als Kind, und jeder neue Fehler ist peinlicher als der vorhergehende. Natürlich gibt es auch glückliche Momente, in denen der junge Mensch mit sich und der Welt im Reinen ist, doch diese sind nur selten literaturfähig.
Wer also von Kindheit und Jugend erzählen möchte, wird sich wohlweislich auf jene Augenblicke konzentrieren, die ihm noch Jahrzehnte später Schauer über den Rücken jagen. Und diese sind merkwürdigerweise bei vielen Menschen ähnlich. Wahrscheinlich rührt daher der Erfolg jener launigen Form von Erinnerungsprosa, wie sie in den letzten Jahren von so unterschiedlichen schriftstellerischen Temperamenten wie Matthias Politycki (Weiberroman) oder Frank Goosen (Liegen lernen) verfasst wurde. In ironisch abgeklärtem Erzählton vorgetragen verlieren die peinigenden Jugenderlebnisse ihren Schrecken und laden den Leser zur lustvollen Identifikation ein. So weit, so harmlos. Zumindest, wenn es um eine westdeutsche Kindheit geht. Übt sich allerdings ein in der DDR aufgewachsener Autor, wie beispielsweise Thomas Brussig in seinem Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee in vergleichbarer schmerzlich-süßer Nostalgie, muss er sich gegebenenfalls vorhalten lassen, er verharmlose die Lebensverhältnisse in einer Diktatur.
Darf man von den merkwürdigen Gefühlen beim ersten Zungenkuss erzählen, ohne die Mauer zu erwähnen? Müssen die Eltern wenigstens eines Klassenkameraden Stasi-Spitzel sein? Und vor allem, kann auf diese Weise überhaupt eine gute Geschichte zu Stande kommen?
Wie so etwas geht, hat vor etwas mehr als einem Jahr der 1971 geborene Schriftsteller Jakob Hein in seinem Erzähldebüt Mein erstes T-Shirt vorgeführt. In den ersten Geschichten des Bandes allerdings sind die Hinweise auf das Land, in dem sie spielen, noch spärlich. In der Raucherecke des Schulhofes zu stehen und sich am Distinktionsgewinn eines extravaganten Musikgeschmacks zu laben, ist eine Erfahrung, die Tausende pubertierender Jungmänner teilen. Schon weniger werden jemals versucht haben, eine Schallfolie mit einer Lenin-Ansprache mangels Plattenspieler mit Hilfe des eigenen spitz zugefeilten Fingernagels zum Klingen zu bringen, während die Erkenntnis, dass so manche vielversprechende Band an unheilvollem weiblichen Einfluss scheitern musste, Allgemeingut auch in westlichen Jungenkreisen war. Und natürlich die mächtige Sozialisationsinstanz Fernsehen. Auch im Osten guckten die Kinder in den achtziger Jahren mit Begeisterung Hart, aber herzlich oder Ein Colt für alle Fälle, und Gnade dem armen Wicht, dessen Eltern aus übertriebener Staatsloyalität keine Westsender duldeten.
Was also unterscheidet diese Geschichten von vergleichbaren Erzählungen aus der ehemaligen Bundesrepublik? Der Erzählgestus ist es nicht; viele junge Schriftsteller aus Westdeutschland sagen ebenfalls wieder »ich« und scheinen damit tatsächlich sich selbst zu meinen. Auch die ironische Grundhaltung, die diese Mischung aus Distanz und Nähe so gut lesbar macht, findet sich in einer ganzen Reihe von Texten der späten neunziger Jahre. Was aber den Geschichten von Heins westdeutschen Altersgenossen fehlt, ist die fühlbare Präsenz des Staates. Nicht nur, wenn in der Schule Protestbriefe an den amerikanischen Präsidenten verfasst werden oder eine Stunde in Zivilverteidigung stattfindet, der Arbeiter- und Bauernstaat ist immer gegenwärtig. Die alte Phrase, dass das Private politisch sei, nimmt auf groteske Art und Weise Gestalt an. »Schlechte Mitarbeit, keine Hausaufgaben gemacht - da waren alle Arbeiter und Bauern traurig. Westfernsehen gucken und Comics lesen - dafür hatte der kleine Trompeter nicht die Faschistenkugel gefangen, die eigentlich für uns bestimmt war.« Und so erscheint die Perspektive des Kindes beinahe als einzig angebrachte für die Schilderung eines Staatswesens, das auf gewisse Weise wie einer der Kindergärten mit Mittagsschlafpflicht wirkt, die Hein in der titelgebenden Geschichte seines ersten T-Shirt so anschaulich schildert.
Jakob Heins erster Erzählband versammelte mehr als zwanzig Geschichten auf 150 relativ eng bedruckten Seiten. Auch schon damals war manch ein zielsicher auf die Pointe hin geschriebenes Stück dabei, das beim Vortrag auf der »Reformbühne Heim Welt« im Berliner »Kaffee Burger« sicherlich seinen Zweck erfüllte, bei einer zweiten Lektüre aber nicht mehr ganz so lustig wirkt. Nun ist sein zweites Buch, Formen menschlichen Zusammenlebens erschienen, und es scheint so, als sei ihm der Stoff knapp geworden. Um auf 150 Seiten zu kommen, hat der Verlag eine Schriftgröße gewählt, die auch stark Kurzsichtigen entgegen kommt. Außerdem finden sich eine Reihe farbiger Fotografien in dem Band, deren Qualität und Aussagekraft zweifelhaft ist. Wer es allerdings witzig findet, ein Schild abzulichten, auf dem »Photography is not permitted« steht, wird sicherlich Spaß an den Bildern haben.
Man ahnt es schon, der Autor war auf Reisen. Nicht vor kurzem, sondern vor mehr als zehn Jahren, als es ihm das Ende der DDR endlich möglich machte, seinen Jugendtraum zu verwirklichen.
Bereits mit zwölf Jahren wäre Jakob Hein nämlich am liebsten mit einem Schiff nach Amerika gefahren, was aus den bekannten Gründen nicht ging. Also wartete der mittlerweile 18-Jährige, als sich die Gelegenheit ergab, nicht lange und bestieg, nein, keinen Frachter, sondern ein Flugzeug nach New York. Ein Dreivierteljahr blieb er in den USA, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, lernte Florida und Kalifornien, aber auch die Provinz in Kentucky kennen, und machte sich offenbar die ganze Zeit Notizen. Und nun, etliche Jahre später, legt er seine Reiseerzählungen vor. Wie in den DDR-Geschichten zeigt sich Hein hier als Meister einer »angenehmen, leicht verständlichen Sprache« (Wladimir Kaminer). Aber hat er wirklich etwas zu erzählen? Wer schon immer der Ansicht war, dass die Vereinigten Staaten ein ziemlich bizarres, gewöhnungsbedürftiges Land sind, wird durch die Lektüre nicht enttäuscht. Allerdings erfährt er auch nicht sehr viel mehr. Für den Rezensenten war keiner der Menschen, die dem Autor in den USA begegnen, so interessant wie Frau Dr. Gaber, die dem jungen Jakob Hein zu DDR-Zeiten mit größtem Widerwillen Englisch beibrachte. In der untergegangenen anderen deutschen Republik nämlich, da kannte der Autor sich aus. Deshalb versteht er sich auch so virtuos darauf, aus der atemberaubenden Normalität des ostdeutschen Alltags Funken zu schlagen, während sich der Leser sich angesichts der Erlebnisse in den USA nicht nur einmal fragt, ob er das wirklich alles wissen will.
Von Frau Dr. Gaber liest man leider nur im zweiten Kapitel des Buches, dann geht schon das Flugzeug in die »neue Welt«. Als Hein zurückkommt, stellt er fest, dass Berlin amerikanischer geworden ist. Für ihn beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Er nennt ihn im letzten Satz des Buches »eine ganz andere Geschichte«. Hoffen wir, dass es sich lohnt, sie zu erzählen.
Jakob Hein: Mein erstes T-Shirt. Mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer. Piper, München 2001, 150 S., 12 EUR
Ders.: Formen menschlichen Zusammenlebens. Piper, München 2003, 150 S., 12 E
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.