Die Schule ist mir verhasst. Den Lehrern ist mein Anblick zuwider; wahrscheinlich freuen sie sich, wenn ich wegbleibe. Ich falle in allen Fächern durch, nur in Kunst nicht." Kein Wunder also, dass der fünfzehnjährige Charles Simic, den es als Flüchtling nach Paris verschlagen hat, den Unterricht schwänzt, sobald sich die Möglichkeit ergibt. Irgendwann scheint er aber dennoch etwas gelernt zu haben, denn sonst würde der bekannte Essayist und Lyriker heute nicht an der Universität von New Hampshire Literaturgeschichte unterrichten.
Diese kleine Geschichte zeigt zweierlei: Zum einen nämlich, dass schulische Misserfolge nicht zwangsläufig ein verpfuschtes Leben bedeuten, und zum anderen, dass es immer Menschen gibt, die auf das System Schule mit Ablehnung und Widerwillen reagieren. Besonders häufig tritt dieses Phänomen in der Altersgruppe der 13- bis 15-jährigen auf, weshalb Lehrern, die in den Klassen 8 und 9 unterrichten, gewöhnlich das Mitleid des Kollegiums zuteil wird, zumal später, in der Oberstufe, häufig festgestellt werden muss, dass sich kaum ein Schüler, und tatsächlich geht es hier vor allem um Jungen, an den in dieser Zeit durchgenommenen Lernstoff zu erinnern vermag. Leider ist der kühne Vorschlag des Pädagogen Hartmut von Hentig, für die genannte Altersgruppe eine gesellschaftliche Alternative zur Schule zu schaffen, zum Beispiel in Form praktischer Arbeit, bislang von staatlicher Seite nicht aufgegriffen worden.
Da stoßen andere Ideen auf offenere Ohren. So kündigte die Bundesbildungsministerin vor kurzem an, binnen zwei Jahren sämtliche Schulen großzügig mit Computern auszustatten, was ihr sofort die Note 2 in der sonnabendlichen Politikerbewertung der Tageszeitung Die Welt eintrug. Schließlich geht es um Medienkompetenz, einen Begriff, ohne den keines der zahlreich publizierten Schulreformkonzepte auskommt. Federführend ist hier natürlich der Initiativkreis Bildung der Bertelsmann Stiftung, der in einem Memorandum die Fähigkeit, mit den neuen Medien umzugehen, neben die traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen stellt. Doch ob diese Kompetenz sich schon in der Beherrschung der Playstation im Kinderzimmer zeigt oder erst bei der Durchführung einer umfangreichen Internetrecherche, ist weitgehend unklar. Und wer, wie der Autor, erlebt hat, wie Schüler eine zusammengeheftete Sammlung von Ausdrucken diverser Websites als Referat oder Facharbeit präsentierten, hält den Erwerb einer tatsächlichen Medienkompetenz für ein natürlich wünschenswertes, aber auch hehres Ziel. Dass die Computerisierung des Unterrichts allein wenig ändert, zeigt ein Bericht des Spiegel über jenes Gütersloher Gymnasium, das die Bertelsmann-Stiftung mit 18 Millionen Mark zur High-Tech-Schule hochgerüstet hat. Während der Schulleiter von "Verlebendigung" des Unterrichts spricht, klicken die Schüler "wie Generationen vor ihnen, die von den Ausführungen des Paukers angeödet waren", "milde interessiert" auf den Bildschirmen ihrer Notebooks herum.
Doch lassen solche Berichte einen wahren Schulreformer wie den Hamburger Pädagogikprofessor Peter Struck, dessen neuestes Traktat den programmatischen Titel Vom Pauker zum Coach trägt, gewöhnlich unbeeindruckt. Sein Befund lautet: "Unsere Schulen sind unzeitgemäß, Reformen dringend erforderlich, aber viele Lehrer zeigen sich reformmüde." Und tatsächlich gelingt es ihm (und seinem Co-Autor Ingo Würtl) wieder einmal, das mittlerweile aus unzähligen Publikationen bekannte Jammerbild des deutschen Schulwesens eindringlich vorzuführen. Von 4 Millionen Analphabeten über 30 Millionen Mark für Nachhilfeunterricht bis zu 20 Prozent hyperaktiven Schülern, Strucks Horrorzahlen sprechen für sich. Doch der Professor weiß Rat. Verstellbare Schulmöbel, eine völlig andere Lehrerbildung, mehr männliche Lehrer in Grundschulen, mehr Sozialpädagogen, Familienhelfer, Präventionslehrer, Schulpsychologen und natürlich auch hier mehr Computerlernprogramme, damit mehr Zeit für pädagogische Arbeit bleibe: schier endlos scheinen die Listen manchmal sinnvoll, manchmal eher absurd anmutender Vorschläge, für die hier mit missionarischem Eifer geworben wird. Struck scheint eine Art schulischer Rundumversorgung anzustreben, von der er sich die Beseitigung aller gesellschaftlich verursachten Übel verspricht. Dies steht übrigens in einem merkwürdigen Widerspruch zu manchen Kapiteln des Buches, die unaufgeregt und eher pragmatisch aus dem Schulalltag berichten.
Solche emotionale Zurückhaltung ist natürlich eine zu gewaltige Forderung an jemanden, der das Paradies gesehen hat. Deshalb ist der Bericht des Publizisten Reinhard Kahl über die Schulen des Distrikts Durham im südlichen Kanada auch zum schönsten pädagogischen Kitsch geraten, den man seit langem lesen konnte. Erschienen ist das Ganze als Nachwort zu einem (vielleicht aufgrund der Übersetzung?) unlesbaren Buch des kanadischen Erziehungswissenschaftlers Michael Fullan Die Schule als lernendes Unternehmen. Die Bertelsmann-Stiftung, laut Kahl Deutschlands heimliches Kultusministerium, hatte nämlich diese Schulen 1996 mit dem Carl-Bertelsmann-Preis als die besten der Welt ausgezeichnet. Und Reinhard Kahl weiß, warum. Da ist zunächst einmal die Atmosphäre, doch die "lässt sich von allen Beobachtungen am schwersten beschreiben". Wenn man es trotzdem versucht, kommt folgendes heraus: "Wir besuchen einen Literaturkurs in Sinclair Secondary. Schüler aus dem vierten Jahrgang rekonstruieren die Grundzüge einer Novelle, die sie gelesen haben, auf Mindmaps. Stets sind mehrere Schüler über ein großes Blatt gebeugt. Hier wird Schule tatsächlich zur Werkstatt. ... Und wieder erstaunt mich, wie bei identischer Vorlage, der Novelle, jede Gedankenkarte anders aussieht. Jede Gruppe findet ihre Bilder. ... Die Lehrerin geht von Tisch zu Tisch. Das nennt sie, Âteaching by walking aroundÂ". Zwar wird überhaupt nicht klar, was das Mindmapping zum Verständnis des literarischen Textes, um den es ja wohl geht, beiträgt, doch das scheint dem Beobachter egal zu sein. Wichtig ist, dass Gruppen arbeiten und die Lehrerin in der Klasse herumläuft, was in solchen Fällen auch an hiesigen Schulen eine Selbstverständlichkeit ist. Doch Kahl ist sich sicher, einen Unterschied erkannt zu haben, den er in einem kleinen Wortspiel zusammenfasst: "Aufrichten statt Unterrichten". Hier wird klar, wo das eigentliche Feindbild vieler "Innovatoren" liegt, nämlich im Unterricht, den sie gerne mit Attributen wie "lehrerzentriert", "frontal" oder auch "traditionell" versehen. An dessen Stelle soll das "selbstbestimmte Lernen" treten, eine Schimäre, die vom Bertelsmann-Memorandum über Strucks Vorschlagslisten bis zu Reinhard Kahls Erlebnisbericht immer wieder beschworen wird. Interessanterweise glaubt man, nur mit einem solchen Konzept zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen, die übrigens immer stärker als die Ansprüche definiert werden, die Unternehmen der Großindustrie an ihre Arbeitnehmerschaft stellen, begegnen zu können. So wird aus der Grundschule eine "Lernwerkstatt mit offenem Unterricht, mit Partnerarbeit und Computern" (Struck), die auch der heute üblichen heterogenen Klassenzusammensetzung mit einem immer größeren Anteil von erzieherisch vernachlässigten Kindern gerecht werde. Warum problematische Schüler in einer derart offenen Lernumgebung inklusive "Lernberater" allerdings besser zurecht kommen sollten als in einer "herkömmlichen" Unterrichtssituation, die an Grundschulen zumindest in NRW mittlerweile die Ausnahme darstellen dürfte, bleibt das Geheimnis des Verfassers. Der Satz des Bertelsmann-Memorandums "Mit dem Abschluss der Grundschule sollten alle Kinder die Kulturtechniken beherrschen", dürfte jedenfalls bei den Lehrerinnen und Lehrern der Sekundarstufe I gequälte Heiterkeit hervorrufen.
Damit wären wir bei einem Hauptproblem der vorliegenden Reformliteratur angelangt. Je weniger nämlich die Schule in der Lage scheint, Basisfertigkeiten zu vermitteln, desto verstiegener werden die Formulierungen dessen, was sie leisten soll. "Pädagogische Illusionen" nennt dies der emeritierte Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke und bricht in seinem gleichnamigen Buch eine Lanze für den "normalen Unterricht", dessen Qualität eben darin liege, dass er seine eigene Dynamik und Struktur besitze und eben nicht das "Leben" zu imitieren suche. Auch wenn man Giesecke nicht in allen Punkten seiner prinzipiellen Kritik an dreißig Jahren Bildungsreform zustimmen mag, so zeigen seine Formulierungen doch erheblich mehr Realitätssinn als die Worthülsen des reformpädagogischen Mainstreams, bei dem die blumigen Anforderungsprofile aus den Personalabteilungen großer Unternehmen an die Stelle der in den siebziger Jahren propagierten Selbstverwirklichung getreten sind. Da wird nämlich Bildung zum "Megathema" (Roman Herzog), ohne dass man genau zu sagen vermöchte, was eigentlich konkret gelernt werden soll.
Kein Wunder, dass zu einem solchen Zeitpunkt die Debatte um den Bildungskanon wieder aufflammt. Dietrich Schwanitz, der streitbare Ex-Anglistikprofessor und Verfasser satirischer Romane (Der Campus), sieht die Situation der Schulen noch katastrophaler als auf ihre Weise Struck oder Giesecke ("jämmerlicher Zustand"), eben weil die Idee eines Bildungskanons aufgegeben wurde. Deshalb hat er mit großer Geste sein Kompendium Bildung. Alles, was man wissen muss vorgelegt und dafür manche Ohrfeige in den Feuilletons geerntet. Getadelt wurden sowohl die Vermessenheit der Idee und die Flapsigkeit der Formulierungen als auch mancher Fehler, der sich auf den über 500 großformatigen Seiten eingeschlichen hat. Dennoch: der Schwanitz ist zu loben, bietet er doch einen zwar selektiven, aber gut geordneten Überblick über europäische Geschichte, Literatur, Kunst, Musik und Philosophie und gestattet sich sogar Seitenblicke in die Naturwissenschaft. Gerade für junge Leser ist das kein schlechter Anfang.
Und die Schule? Da wird zum Glück noch immer unterrichtet, sogar häufiger mit Erfolg, als manche denken mögen, auch wenn längst nicht alle Schüler gerne zum Unterricht gehen. Denn der ist immer noch, und hier handelt es sich um eine gesellschaftliche Errungenschaft, eine Zwangsveranstaltung an fünf Tagen in der Woche. Man muss ja nicht gleich wie der Computer-Kritiker Clifford Stoll generell bestreiten, dass Lernen Spaß machen kann, doch die Vorstellung, man könne Unterricht als dauerhaft lustvolle Veranstaltung organisieren, hat etwas Gespenstisches. Ich glaube, der fünfzehnjährige Charles Simic hätte sich auch den Superschulen in Durham, Südkanada, verweigert.
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Zukunft gewinnen. Bildung erneuern. Goldmann Taschenbuch, München 1999, 172 S., 12,- DM
Peter Struck und Ingo Würtl: Vom Pauker zum Coach. Die Lehrer der Zukunft. Hanser Verlag, München 1999, 226 S., 36,- DM
Michael Fullan: Die Schule als lernendes Unternehmen. Konzepte für eine neue Kultur in der Pädagogik. Aus dem Amerikanischen von Maren Klostermann. Mit einem Nachwort von Reinhard Kahl. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 272 S., 48,- DM
Hermann Giesecke: Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 329 S., 39,80 DM
Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, 540 Seiten, 49,90 DM
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